2002 Die Vertikale als Stachel

“Wie unsere Raumplanung das Gebirge verdrängt.“ Forum INTERVENTIONEN STAMS (A) 04-10-2002  

Wie nähern wir uns der Welt? Wo sind wir, wenn wir in der Welt sind ?

Für unser Körpergefühl stehen nur wenige Achsen zur Verfügung: VORNE UND HINTEN, OBEN UND UNTEN – die horizontalen und die vertikalen Orientierungen im Raum. Der Mensch ist eine erdgebundenes Wesen, dem Boden verhaftet und seine Geschichte ist die Geschichte der Eroberung des Raumes, der Erkundung und der Ausdehnung in der Horizontalen. Die Horizontale ist Ausweitung, Extraversion, Besiegen. Demgegenüber obliegen die Höhen und Tiefen dem Menschen weniger. Die Vertikale ist seine Sache nicht. Die Vertikale ist Introversion, Sich Einlassen, Beharren – Einsicht und Gefahr in Abgründe auch. 

Die zyklische Gesellschaft praktiziert die Koexistenz der Horizontalen mit der Vertikalen. Die Vertikale verleiht der Horizontalen ihre Mitte, der Kreislauf ist ihr Symbol. So findet auch in der Ausdehnung die Horizontale immer wieder Bezug zu ihrer Mitte.Doch am Ende des 18. Jt. die Erde entdeckt, die Horizontale der Welt erschöpft. So macht die Horizontale sich daran, auch die Vertikale sich einzuverleiben: Gipfel werden gestürmt, die noch verbleibende terra incognita kartiertNoch zu Beginn des 18. Jahrhundert waren die Alpen das von Dichtern und Malern entdeckte Sinnbild einer unverfälschten, unberührten Natur. Dieses Ideal wird im 19. Jahrhundert vom Mythos der technischen Erschliessung abgelöst. Dieser Mythos ist bis heute wirksam geblieben, obschon die Alpen bereits dicht besiedelt sind mit den Infrastruktursystemen der Horizontalen. 

Mit anderen Worten: mit der schrittweisen Eroberung der Berge beginnt in Europa die Neuzeit. Die Menschen beginnen, von den Heiligen Bergen, den Sitzen der Götter, den Aufenthaltsorten von mythischen Geistern und Ereignissen, Abschied zu nehmen. Stattdessen finden sie Erze, Silber, Gold, schnellere und sichere Verkehrswege. Im Laufe des Zivilisationsprozesses werden die Vorstellungen über die Natur zunehmend entseelt, entmythologisiert, horizontalisiert - mit entsprechendem Preis: Der Gewinn an technikvermittelter Autonomie entspricht dabei dem Verlust der Bedeutsamkeit der Natur. Die Vertikale weicht zusehends. 

Der Erschliessungsmythos dient als Vehikel zur Bekämpfung von wirtschaftlichen Nachteilen und sozialer Rückständigkeit. Ähnliches gilt für alle gesellschaftlichen Teilbereiche. Daraus entsteht ist die hoch technisierte und spezialisierte Arbeits- und Lebenswelt. Darin sind die Alpen je nach Standpunkt ein Eldorado oder – kontrastierend hierzu: eine Ausweichstation für Fehlentwicklungen im Tiefland. Waren die Alpen einst nur mittels eigener Anstrengung, mit dem eigenen Leib erfahrbar, waren zu erwandern, zu erklettern und zu erleiden, so werden sie heute immer mehr zur Kulisse für inszenierte Events, mutieren zu austauschbaren Orten mit austauschbaren Inhalten. Der aufgesuchte Ort als solcher spielt keine Rolle mehr, sei es, weil man sich für seine Geschichte nicht interessiert, sei es, weil er im Verlauf dieses Prozesses der Horizontalisierung seine Unverwechselbarkeit, seine Authentizität verliert und tatsächlich austauschbar wird. Hier wohnen nicht mehr Nietzsches Musen, es ist die „world of wilderness“, es sind die „alpinen Metros“, die „Mystery Parks“... – der Horizontalisierung des Raumes folgt die semiotische Kolonialisierung auf dem Fuss. So werden die Alpen sukzessive funktionalisiert und zum Sportgerät für eine Gesellschaft, deren Individuen vor allem ihren «Lifestyle» zum Ausdruck bringen wollen. 

Die seit Urzeiten schauerliche Welt der Geister und Drachen, der Götter und der unbezwingbaren Dämonen, denen man zwischen Schauer und Huldigung begegnete wird von der Wucht der Horizontalen überrollt, die ästhetische Achtung vor dem Gebirge weicht der Werbeästhetik. 

Zurück bleibt die Erinnerung. Historisch noch ganz greifbar und doch bereits unvorstellbar weit zurück liegen jene Schilderungen, die die Alpen-Reisenden am Ende des 18. Jt. hinterlassen haben. Bereits in der Nachfolge der religiösen Erhabenheit, aber immer noch im Banne der Ergriffenheit gegenüber dem Natur-Erhabenen stehen sie noch der nicht beherrschten Natur – der Vertikalen – gegenüber. 

Der Übergang von der archaischen Tradition, die die Berge als privilegierte Orte göttlicher Erfahrung wahrnimmt zu der neuzeitlichen, funktionalisierten Betrachtungs- und Erlebnisweise ist exemplarisch für die europäische Kulturgeschichte.An deren Schwelle, 1780, – ein Jahrzehnt vor dem Ausbruch der französischen Revolution – beschreibt Wilhelm Heinse seine Erfahrung mit dem Gotthard: «Ich habe den Anfang und das Ende der Welt gesehen.» 

Das Gebirge wird hier als „Ruine der Schöpfung“ wie als „Zeuge eines Paradieses“ erfahren und beschrieben.Doch bereits in dieser Beschreibung kündigt sich aber auch der Übergang hin zur Befriedung durch die Horizontale, der Einebnung an. Die schmale Schicht der Zivilisation unterfängt die unfassbren Tiefen und Höhen, ordnet sie ein auf der Skala der greifbaren horizontalen Welt.Das Gebirge wird fortan zum Tummelplatz des Massentourismus, wird in die Welt der Horizontalen einverleibt. Das Unfassbare wird fassbar gemacht, kartiert. Dass das Gebirge dem Menschen nur in homöopathischen Dosen zuträglich ist, registriert selbst Nietzsche schmerzlich. 

Ohne Folgen bleibt das nicht. Wo immer die Poesie des Unfassbaren – der Mythen auch – nur noch als Biografie von Fakten, als Koordinatensystem verstanden wird, entweicht dessen ursprüngliche, lebensspannende Bedeutung. So verkümmern lebendige Bilder zu bedeutungslosen Fakten, zu Zitaten aus ferner, fremdgewordener Zeit.  

Mit dem Einzug der Horizontalen entflieht das Hintergründige ins Säkulare — aus Tempeln werden Museen. Dies ist einer der wohl charakteristischsten Züge westlicher Zivilisationsgeschichte. Das Bezwingen der Natur, die Aufklärung verschlungenster Bedeutungen — und immer unter dem Imperativ radikaler Restlosigkeit und Verpflichtung zum Nullrisiko — ist längst Programm. Die typische Attitüde in diesem Prozess der Horizontalisierung sind die Landkarte und der Katalog. In der handlichen Katalogik wird das Territorium fassbar und geht schliesslich umfassend darin auf. Als Schaumbad nachmoderner Zivilisationsbewältigung ergiesst sie sich heute über den Betrachter, der geneigt ist, nichts anderes zu sehen, als der Katalog ihm schon vermittelt. Die Vision der Gegenwart löst sich als Instantpulver im Handbuch ihrer Geschichte auf. Die Namen der Täler und Flüsse erhalten katalogische Flügel und kreisen aus dem Ungesagten (der Vertikalen) ins Selbstredende (des Katalogs) empor. Darüber erschöpft sich das Geheimnis der Vertikalen: die katalogische Universalität hat alles erschlossen — und verdaut, dem grossen Magen der Horizontalen, der sich nie überfressen kann und dem nichts zu entgehen scheint. 

Was bleibt von der Vertikalen sichtbar übrig? Ein Rückgriff auf die Strategien der Vertikalen ist unerlässlich: Ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht planbar sind, nicht berechenbar, sie tauchen auf, verschwinden, sind ohne Bleibe.Lebendige Bilder wachsen nicht durch Überstülpen fremder Perspektiven auf eine spürbar gewordene Enge, nicht durch das Reizpotential neuer Techniken. Die Kulturgeschichte hat mit ihrem weiten Spektrum an Ausdrucksformen am Ende des 20. Jahrhunderts (auch) das Thema "Berg" schier restlos ausgeschöpft.  Der Ausfall an äusserer Anteilnahme wird deshalb zu einer wesentlichen Rahmenbedingung, die fehlenden Sichtblenden werden zu Chancen. Zwar ist der Blick auf die Gegenwart verschmutzt durch die Ablagerungen der Geschichte und durch die Allgegenwart der Horizontalen. Natur ist amorph, nur Schutt und Geröll, weder nutzbar noch prädestiniert für ein gedankliches Konzept. Ein äusserliches und schnelles Bezwingen ist unter solchen Voraussetzungen undenkbar.  

Die Strategien der Vertikalen gleichen dem Leben der Wolken: 

Als Drachen steigen wir von der Erde auf  Leben fern in Strömen und Ozeanen  und als Wanderer  kehren wir des Nachts  wieder heim zur Erde  zurück. 

Oder: 

Wir sind die Töchter der Erde und des Wassers Wir sind die Wurzeln des Himmels Und entsteigen den Wellen des Ozeans Wechseln dauernd die Gewänder Und können niemals sterben. 

Dies zwei Texte aus meinem Buch Nuvolarium.  Oder wie es die Kulturen der Vertikalen noch formulieren wissen: " Um der Grösse eines Berges gewahr zu werden, muss man ihn von einer gewissen Distanz betrachten; um seine Form zu erkennen, muss man ihn bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang erleben; um die Mittagszeit und bei Mitternacht; bei Sonnenschein und bei Regen; bei Schnee und Sturm; im Sommer und im Winter; im Frühling und im Herbst: Ein Mensch, der den Berg auf diese Weise sehen kann, nähert sich dem Leben des Berges, das ebenso intensiv ist, wie jenes eines menschlichen Wesens. Die Berge wachsen und zerfallen, sie atmen und pulsieren wie das Leben. Sie ziehen unsichtbare Energien ihrer Umgebung an und horten sie: Energien der Luft, des Wassers, der Elektrizität und der Anziehungskraft; sie erschaffen Winde, Wolken, Stürme, Regen, Wasserfälle und Flüsse. Sie erfüllen ihre Umgebung mit Leben und bieten unzähligen lebenden Dingen Schutz und Nahrung. Von solcher Erhabenheit ist ein Berg." 

Diese Ab- und Unergründlichkeit bleibt der Vertikalen eigen. Trotz aller horizontalen Sogwirkungen bleibt sie resistent gegen alle Befriedungen. Zwar kaum mehr sichtbar, bleibt sie gleichsam als Stachel im Rollteppich der Horizontalen bestehen. Es sind „black holes“, in denen das Sichtbare ins Unsichtbare abtaucht – und die Erfahrung von Himmel und Hölle zugleich in sich bewahren. Die Vertikale ist die stete Erinnerung an das nicht beherrschbare gegenüber, an die Welt der Dunkelheit und des Lichtes, an eine Welt fernab jeglichen Mittelmasses, weil sie in der Mitte selbst ruht. So bleibt: Sich üben im Stillehalten, ein Sich-Einlassen auf einen konkreten Ort. Verfolgt man dann im langen Atem die Ränder einer konkreten Landschaft, so öffnet diese bisweilen wieder behutsam ihr abenteuerliches Licht, jenes Licht, das sie durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch getragen und beseelt hat.  Die Vertikale ist Stachel und Schmerz. Die Horizontale ist endlos und schmerzfrei.

In den Interventionen Stams 2002 werden Fragen der Ressourcen, der Nutzung und Schutzwürdigkeit von Gebirgsregionen anlässlich des UNO-Jahres 2002 breit behandelt. Die Interventionen 02 begreifen das Thema „Berg” vornehmlich als Topos der Kulturgeschichte. Die Auseinandersetzung wird – wie in Stams seit Beginn erfolgreich praktiziert – interdisziplinär geführt: Beiträge aus Wissenschaft, Bildender Kunst, Literatur, Musik und Politik mit wechselseitigen Impulsen.