Reflexionen über das Gotthardprojekt April 1992

 DAS GOTTHARDPROJEKT

Der Name GOTTHARDPROJEKT ist eine Chiffre für eine Tätigkeit. Sie nahm ihren Anfang in meiner Kindheit aufgrund einer geradezu magnetischen Anziehungskraft dieses Territoriums. Im Laufe der letzten 10 Jahre ist daraus eine umfassende Auseinandersetzung geworden. 

Rein äusserlich betrachtet konzentriert sich diese Arbeit auf ein etwa 20 auf 20 km grosses Gelände inmitten der Alpen, auf ein Gebiet, das seit dem 12. Jahrhundert nicht nur einen Focus schweizerischen Selbstverständnisses, sondern auch einen europäischen Ort darstellt.

Inbezug auf mein Projekt ist dieser geografische und historische Anhaltspunkt allerdings trügerisch, geht es mir doch nicht um diese äusseren und künstlerisch wie historisch vielfach abgehandelten Schichten dieses Raumes. 

Mit dem Namen GOTTHARDPROJEKT verbindet sich vielmehr die Idee einer Projektion, eines Entwurf von Bildern auf den Bildschirm eines Geländes, um den Aufbau einer Innenwelt in der Aussenwelt einer Urlandschaft — in einer Landschaft, in der es wenig braucht, um hinter den amorphen Steinmassen, den monströsen Wolkengebilden und der an die Sahara erinnernden Verwehungen und Verfrachtungen des Schnees eine nahezu unerschöpfliche Quelle von Bildern und Phantasien zu erahnen.

PROJEKTPHILOSOPHIE

Zum Wesen eines Projektes gehört es, dass es sich um einen Prozess handelt, dessen Ziel zunächst nicht definiert ist. Kennzeichnend ist lediglich eine spezifische Art des Vorgehens, eine bisweilen abenteuerliche Suche nach etwas zunächst Unbekanntem. Charakteristisch ist aber nicht nur die sich vortastende Vorgehensweise, sondern auch die Eigendynamik, die jeder Entwurf in seiner Realisation entwickelt und die Notwendigkeit, dass die einzelnen Schritte nicht vollständig kontrollierbar sind.

Verwandt mit der Idee eines Projektes ist die Idee der Bewegung; die Bewegung hat zwar ein Ziel, doch dieses bestimmt sich immer wieder neu. Das Ziel kann mit der Zeit zwar bestimmter und präziser werden; doch jede Bewegung bleibt letztlich ein Loop ins Ungewisse.

Einziges Kriterium einer solchen Vorgehensweise ist die Notwendigkeit, das eigene Vorangehen und sich selbst immer wieder zu beobachten, zu befragen und dem Amalgam unterschiedlichster Einflüsse und Faktoren in einer Art kontrollierter Offenheit zu begegnen.

Einer solcherweise sich vortastenden Arbeit haftet stets der Charakter des Dilettierens, des Unfertigen, des Ungeschliffenen an. Dies ist vielleicht in meiner Arbeit in einzelnen Fotografien, Radierungen oder Szenen zu beobachten — doch diese einzelnen Elemente verweisen niemals auf sich selbst, sondern immer nur auf ihren Zusammenhang mit dem gesamten Projekt, das auf programmatische Weise mäandriert zwischen verschiedenen Ausdrucksweisen, dabei aber immer wieder von einer Grundfaszination getragen ist.

 Teil 1 Philosophie des Vormittags

 Der Begriff "Gotthardprojekt" umreisst seit Beginn meiner eigentlichen Arbeiten im Jahre 1983 eine Summe von Projekten, in deren Zentrum die Auseinandersetztung mit dem Raum des Gotthards steht. Dieses Territorium stellt für mich nicht nur eine Art Urszenerie, sondern auch eine Projektionsfläche dar, in der sich der Prozess der Zivilisation spiegelt. Das Gotthardprojekt ist nicht ein einzelnes, zeitlich begrenztes Vorhaben, wie darin auch nicht eine einzelne künstlerische Technik oder formale Gestaltung im Vordergrund steht. Als Gesamtprojekt angelegt ist es Ausdruck einer Auseinandersetzung, die von einem spezifischen Territorium ausgeht, dabei den Akt der Darstellung selbst zum Thema hat und diesen im Spiel mit unterschiedlichen Bewusstseinsstufen der Zivilisation variiert. Das Spektrum dieses Programms reicht damit nicht nur weit über die lokal-historische Zeit des letzten Jahrtausends — die eigentliche Passgeschichte — hinaus, sondern umfasst ebenso Bereiche unterschiedlichster  Darstellungen, seien sie philosophischer, szenischer, literarischer oder bildnerischer Herkunft.

Der vorliegende Teil "Philosophie des Vormittags" will einige Gedanken und Standortmarken abstecken, in denen dieses Projekt, das dahinterliegende Selbstverständnis und die damit verbundenen Arbeiten sich bewegen. Die Mischung zwischen biografischer Notiz und Zitat ist assoziativ gedacht und weder einer Vollständigkeit noch einer Chronologie verpflichtet.

LA LIGNE DE FOI

Es gibt Landschaften, die begegnen einem wie Persönlichkeiten. Sie üben eine Anziehungskraft aus, sie bewegen und sind doch nicht greifbar. Weder  physi-sche Anstrengung des Begehens noch kartografische Vermessung oder histo-rische Mythen vermögen sie zu erobern. In steter Verhüllung fordern sie vielmehr Geduld, Hingabe und Konzentration heraus. Solange, bis die Intensität der Hingabe jenes Ausmass erreicht hat, in der durch die äussere Erscheinung hindurch — für Momente — das Gesicht der Landschaft  erscheint.

Allerdings: kalkulierbar ist dies nicht. Im Gegenteil: es erscheint wie Luxus (bewegt sich Hingabe doch stets ausserhalb der Zeit), wirkt wie Unsinn (ein praktisches Ziel eines solchen Vorhabens scheint es nicht zu geben) —und jede Bemühung um Annäherung verstärkt die Ungewissheit. Das Dasein der Landschaft gleicht einem galoppierenden Pferd: mit jeder Bewegung ändert sie ihren Ausdruck, in jeder Sekunde ihre Gestalt: eine feste Form ist unsichtbar — nur Verwandlung ist greifbar.

Dem Betrachter öffnet sich ein Chaos, er kämpft mit dem Imperativ, Ordnung schaffen zu müssen, um sich behaupten zu können. Doch zu starkes Oeffnen, zu rasche Annäherung verursachen Verbrennungen.

Bleibt: So viel Anschauung. Das Urgestein der Landschaft dämmert in sich dahin, wundert sich nicht über das Dasein, fragt nicht, was es selbst sei. Ohne Boden und ohne Himmel verweilt die Landschaft in sich selbst. Das trockene Auge haftet sich an die Spuren dieser Unmenschlichkeit. Sein Körper bewohnt die Landschaft. Seine Stirne wandelt über den gekrümmten Horizont. Seine Wahrnehmung nährt sich an der Vergangenheit, um das eigene Auge zu finden, das den Wachtraum dieser Landschaft bannt, die ihm unentwegt entgegenstarrt.

" Der Gotthard ist zwar nicht das höchste Gebirge der Schweiz, und in Savoyen übertrifft ihn der Montblanc an Höhe um sehr vieles; doch behauptet er den Rang eines königlichen Gebirges über alle andere, weil die grössten Gebirgsketten bei ihm zusammenlaufen und sich an ihn lehnen. (...) So befindet man sich hier auf einem Kreuzpunkte, von dem aus Gebirge und Flüsse in alle vier Himmelsgegenden auslaufen."

Johann  Wolfgang Goethe in einem Brief vom 13. November 1779 aus der Schweiz.



DER UNSICHTBARE GRUND DER EIGENTLICHEN SYMPATHIE

 Hinter allen Fenstern meines Grenzgebirges rings um dies verlassene Kloster am Rand der alten Welt nisten ungenannte Vögel im mondgleiten schlafend Land. Im Atem meiner Briefe neigt sich silbergrau die Nacht.

Der Berg: von grosser Höhe, ungezähmt sein Umfang in namenlosen Wunden tief in sich gekehrt. Im Abendfluss neigt sich seine Last hinab zu seiner Ahnen Grund. Im Nordgebirge schrecken Vögel auf, ziehn südwärts.

Ich sammle Wolken in den Ostgebirgen taste mich hinüber zu den Wurzeln ihres Atems. Im Schleier ihrer Zauberworte entgleiten Sohlen längst vergessner Tänzerinnen. In der ungeheuren Stille zucke ich jedesmal empor.

Düstre Schwärze umrankt die Gewölbe dieser Nacht. Fünfmal schlage ich ihre kohlenen Rippen tief. Des Berges schwere Last muss im Schweigen sich erschliessen. Im Süden spalten Funken sich, entspringt die Gischt von Fluten Draussen und drinnen, wo bleibt da der Grund.

Gebrandet ach die erloschenen Steine der Zyklopen Wie trägt die Flut die Spiegelung hinweg. Ein Jahrtausend schliesst die Tore. Ich lehne meinen Kopf an diesen Blätterberg — Die Erde weicht zurück: Hier bin ich: eine Gegend.

Aus dem Prolog des zweiten, 5-teiligen Grafik-Bandes VOLUME II: "Der unsichtbare Grund der eigentlichen Sympathie" (1989)




IM HOCHLAND FÄLLT DER ERSTE SCHUSS

Die Identität der Schweiz ist stark in ihrem Raumbild verankert. Die topografische Struktur der Landschaft ist prägend für das Selbstverständnis der Bewohner. Täler und Berge sind in sprachlichen Gedächtnissen detailliert konserviert. Innerhalb dieses vielfältig verästelten Inventars verkörpert der Gotthard eine symbolische Zentralität. Dieses Hochplateau symbolisiert die Idee der Einheit, die sich vielgestaltig in die Täler und Flüsse ausbreitet.

Neben der Bedeutung für die Schweiz stellte dieses Plateau in den vergangenen Jahrhunderten auch für Nachbarländer eine Projektionsfläche für Ideale dar: eine Art bukolische Idylle, ein Arkadien inmitten eines anbrechenden Industriezeitalters.Mittlerweile sind diese Ideale in Vitrinen längst zur Schau gestellt, die Schrecken und Unberechenbarkeiten des Gebirges gebannt. Nachdem die letzten Gipfel-Erlebnisse kartografiert, das Erhabene in Sonderheften vorliegt und selbst das Marginale von einem Heer von Heimwerkern bearbeitet wird, ist dieses Territorium längst Anthologie.

Mit der endgültigen Bezwingung und Musealisierung hat sich aber auch die Aura der einst beschworenen mythischen Hochebene verflüchtigt. Exotischere Landschaften sind an ihre Stelle getreten: der Khaiber-Pass, Nepal, Pamir, Tibet. Heute erschöpfen sich die auf Bewahrung bedachten Gedächtnisse in Episoden und fernab von Erfahrungen der Gegenwart. Der Mythos "Gotthard" ist zwar noch reich umwoben, befrachtet durch Geschichte, Kunst und Technik. Als Souvenir, als Zitate hinter Vitrinen sinkt er jedoch unter die Schwelle aktueller Bedeutsamkeit zurück. Der Mythos erhält keinen Kredit mehr.

Ohne Folgen bleibt das nicht. Wo immer die Poesie eines Mythos nur noch als Biografie von Fakten, als Geschichte verstanden wird, entweicht dessen ursprüngliche, lebensspannende Bedeutung und er beginnt ohne grosses Aufheben abzusterben, wird leise und unsichtbar. So verkümmern lebendige Bilder zu bedeutungslosen Fakten, zu Zitaten aus ferner, fremdgewordener Zeit. In dieser Situation ist es nicht schwierig, aufzuzeigen, dass der Mythos — jetzt verstanden als Historie oder als Wissenschaft — eigentlich absurd ist. Mit dem Einzug  des Säkularen entflieht das Hintergründige — aus Tempeln werden Museen. Dies ist einer der wohl charakteristischsten Züge westlicher Zivilisationsgeschichte. Das Bezwingen der Natur, die Aufklärung verschlungenster Bedeutungen — und immer unter dem Imperativ radikaler Restlosigkeit und Verpflichtung zum Nullrisiko — ist längst Programm. Die typische Attitüde dieser Haltung sind die Landkarte und der Katalog. In der handlichen Katalogik wird das Territorium fassbar und geht schliesslich umfassend darin auf. Als Schaumbad nachmoderner Zivilisationsbewältigung ergiesst sie sich heute über den Betrachter, der geneigt ist, nichts anderes zu sehen, als der Katalog ihm schon vermittelt. Die Vision der Gegenwart löst sich als Instantpulver im Handbuch ihrer Geschichte auf. Die Namen der Täler und Flüsse erhalten katalogische Flügel und kreisen aus dem Ungesagten (des Territoriums) ins Selbstredende (des Katalogs) empor. Darüber erschöpft sich das Geheimnis des Territoriums: die katalogische Universalität hat alles erschlossen — und verdaut, einem grossen Magen gleich, der sich nie überfressen kann und dem nichts zu entgehen scheint.

" Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend, kann ich mir sagen: hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine neuere Schicht, keine aufgehäufte, zusammengeschwemmte Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der Urwelt gelegt, du gehst nicht wie in jenen fruchtbaren schönen Tälern über ein anhaltendes Grab, diese Gipfel haben nichts Lebendiges verschlungen, sie sind vor allem Leben und über alles Leben. “

Johann Wolfgang Goethe: Über den Granit (geschrieben 1784, veröffentlicht 1878)

 

BIOGRAFIE  I

Was bleibt frei vom Zwang des Vorzeigens ? Auf welcher Schwelle vermag ein Blick vom Gedränge der Begriffe, der Ausstellung wegzuschweifen, hin zum Unausstellbaren ?

Die eigene Biografie weist einen Weg — über viele Stationen hinweg. Seit frühester Kindheit hat mich der Gotthard beschäftigt: als Kind, das an den Ufern des Vierwaldstättersees aufwuchs, mit den Träumen der Eisenbahn und der Strasse nach dem Süden im Kopf. In den 50er Jahren stellte sich mir das Territorium in einer ersten Hülle dar: ich baute Modelle für den Strassentunnel, entwarf Brücken für kommende Autobahnen und ging zur Mittelschule in der Absicht, später an der Eidgenössischen Technischen Hochschule einmal Tiefbau-Ingenieur zu studieren, um mit Wissen und Technik Einfluss zu nehmen auf diese Landschaft.

Später, als diese Pläne im Gelände — und ohne meine Mithilfe — Wirklichkeit geworden waren, öffneten sich andere Perspektiven, neue Schichten und Schichtungen tauchten auf: etwa die Idee eines zentralen Massivs, eines Hochlands, die mich immer mehr zu beschäftigen begann, mich geradezu anzog wie ein magnetisches Feld, ohne eigentlich zu wissen warum. Später kamen Anregungen aus Werken der Literatur hinzu — ich entdeckte in Goethe nicht nur den Schulklassiker, sondern in seinen differenzierten Auf-zeichnungen zur Meteorologie, zu Wolken und Gestein entlang des Passes auch jemanden, der sich mit verschiedensten Mitteln und äussserst differenziert auch mit dem Gotthard auseinandersetzte... Eine zufällige Fotoserie mit Aufnahmen einer morgendlichen Dämmerung im Herbst 1983— meine erste Kameraarbeit überhaupt — förderte weitere Schichten zu Tage, unter anderem die Spekulation, dass vorbeiziehende provenzalische Kelten hier oben die Sonne verehrten (Dissertation Zurlauben 1782). Später folgte die Entdeckung, dass es überall auf der Welt Heilige Berge gibt: der Fujiyama der Japaner, der Omei der Chinesen, der Kassaya Parbat der Inder, der Kailas in Tibet, verbunden mit Vorstellungen von Energie-Linien in der Landschaft, Gedanken wie sie die Chinesen in ihrer Geomantie pflegen.

Derart ungewohnte Vorstellungen öffneten mir einen Weg in das bisher Rätselhafte und weithin Unerschlossene des äusserlich mittlerweile bedeutungslos gewordenen Berges.

 " Um der Grösse eines Berges gewahr zu werden, muss man ihn von einer gewissen Distanz betrachten; um seine Form zu erkennen, muss man ihn bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang erleben; um die Mittagszeit und bei Mitternacht; bei Sonnenschein und bei Regen; bei Schnee und Sturm; im Sommer und im Winter; im Frühling und im Herbst: Ein Mensch, der den Berg auf diese Weise sehen kann, nähert sich dem Leben des Berges, das ebenso intensiv ist, wie jenes eines menschlichen Wesens. Die Berge wachsen und zerfallen, sie atmen und pulsieren wie das Leben. Sie ziehen unsichtbare Energien ihrer Umgebung an und horten sie: Energien der Luft, des Wassers, der Elektrizität und der Anziehungskraft; sie erschaffen Winde, Wolken, Stürme, Regen, Wasserfälle und Flüsse. Sie erfüllen ihre Umgebung mit Leben und bieten unzähligen lebenden Dingen Schutz und Nahrung. Von solcher Erhabenheit ist ein Berg." Lama Angarika Govinda

" Was die Heiden von uns unterscheidet, ist jene ungeheure, am Ursprung all ihrer Glaubensformen unternommene Anstrengung, nicht vom Menschen aus zu denken, um die Verbindung mit der ganzen Schöpfung, das heisst mit der Gottheit zu erhalten." aus: Antonin Artaud: Heliogabal




 BIOGRAFIE II

Im Märchen öffnet sich im magischen Zauberspruch der Berg. Heute lockt die Kulturgeschichte — die Kenntnisse der Mythen der Völker dieser Erde, ihrer Orte und Riten — doch sie stellt sich auch als Klippe dazwischen: Lebendige Bilder wachsen nicht durch Ueberstülpen ferner Perspektiven auf eine spürbar gewordene Enge, nicht durch den Reiz neuer Techniken. Und die Kultur-geschichte hat mit ihrem weiten Spektrum an Ausdrucksformen am Ende des 20. Jahrhunderts (auch) das Thema "Berg" schier restlos ausgeschöpft. Eine Auseinandersetzung heute mit diesem Territorium erbringt keine schnell-füssigen Ausstellungsobjekte, wird zu keiner Fussnote des Zeitgeistes, diesem unersättlichen Ernährer aller Kataloge. Der Ausfall an äusserer Anteilnahme wird vielmehr zu einer wesentlichen Rahmenbedingung, die fehlenden Sichtblenden werden zu Chancen. Zwar ist der Blick auf die Gegenwart verschmutzt durch die Ablagerungen der Geschichte und jede Bemühung, sich erst einmal vorbehaltlos dem Territorium auszusetzen, nimmt sich zäh aus.

Natur ist amorph, nur Schutt und Geröll, weder nutzbar noch prädestiniert für ein gedankliches Konzept. Ein äusserliches und schnelles Bezwingen ist unter solchen Voraussetzungen undenkbar. Also übe ich mich im Stillehalten, in ein Mich-Einlassen auf dieses Territorium. Es wird zu einem Kampf, jahrelang, gegen mich selbst und gegen die Unerbittlichkeit der Zeit.

Doch verfolge ich im langen Atem die Ränder dieser still daliegenden Landschaft, so öffnet diese bisweilen wieder behutsam ihr abenteuerliches Licht, jenes Licht, das sie durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch getragen und beseelt hat. In dieser Haltung nähere ich mich seit nunmehr bald 10 Jahren dem Gotthardgebirge, beobachte seine Befindlichkeit über lange Zeitphasen hinweg. 

" Ich suche nach den Spuren der Unmenschlichkeit, Spuren, die man nirgendwo in der Natur findet. Diese allein sind die Wahrheit und ausser ihnen kennen wir keine Wirklichkeit. " aus: “Les peintres cubistes” von Guillaume Apollinaire (1913)




BIOGRAFIE III

Zweifel begleiten mich stets: Vielleicht bin ich auch nur ein Voyeur, der sich für die Details interessiert — und ansonsten den unendlich grossen Abstellraum der Geschichte benutzt, Geschichte, die tragischerweise nicht vergessen kann.

Noch ist die Synthese nicht vollkommen und voller Tücken: Die nach aussen gekehrte Meditation entwickelt immer mehr einen Hang zur Verschmelzung, wird zu einer Art Selbstbezüglichkeit. 

Vorerst nur Beobachter möchte ich dennoch durch das Aeussere hindurch, hin zum Innersten — doch prallt die Beobachtung immer wieder an der äusseren Haut des Gebirges ab. In stundenlangem, jahrelangem Gewühl erblinden die Augen in diesem steinernen Labyrinth, tauchen bisweilen erschöpft oder zornig vor Enttäuschung wieder an die Oberfläche zurück.

Beim allzulangen Verweilen an einer Stelle verflüchtigen sich die Reize und erscheinen erst wieder, wenn ich mich für einige Zeit entfernt habe. Diesen Manifestationen des in sich selbst ruhenden Urgesteins, diesen amorphen Haufen, ist nur mit der Entschlossenheit des Bewusstseins zu begegnen.

Der Widerstand der Jahrtausende, die der Zauber in tantalusartigen Ablage-rungen im Kopf des Ausharrenden leistet, muss im Tagbau abgetragen werden; ein Prozess, der dem Schälen einer Zwiebel vergleichbar ist — mehr noch: eine Arbeit mit ungewissem Ausgang.

" Und so ging ich dann nicht so sehr Cézannes Motiven nach, von denen ich überdies wusste, dass die meisten inzwischen verbaut sind, sondern meinem Gefühl: es war der Berg, der mich anzog, wie noch nichts im Leben mich angezogen hatte. " aus Peter Handke: “Die Lehre der Sainte-Victoire”


VOM GRAU AN DER UNTERSEITE DES MEERES

Betrachte ich James Turells Landkarte von Roden Carter, so finde ich darin keine Namen, nur einige Zahlen, Linien, Kurven, Mäandern. Nur weit draussen, wo die Eisenbahn vorbeizieht, fallen ab und zu Namen: Borrow Pit, Coyote Spring — so spärlich, dass man sich nachgerade an sie klammert, sie immerzu liest und sich den Ort vorstellen möchte, der sich dahinter verbergen könnte — die Behausungen, Fenster mit einem freundlichen oder vielleicht auch mürrischen Gesicht...

Betrachte ich dagegen die Karte irgend einer Schweizer Gegend so fällt mir ihre pralle Sprachlichkeit auf: eine Fülle von Worten, Namen, Orten, Bezeichnungen — Identitäten eines Territoriums. Kein Tal, kein Hügel, kein Grat, keine Bergspitze, die namenlos bliebe. Was sich zeigt, muss auch benannt werden.

Unter all diesen Bezeichnungen fällt der Name "Gotthard" besonders auf: sozusagen als gesamtnationales Symbol der Einheit von Tälern und Bergen, als Name der Namen, als Benennung des Akts der Benennung.

Eine Welt, geordnet in diese Superstrukturen der Benennung: geordnet in Bergführern, Museumsführern, Chroniken usf. Doch was damit letztlich vorliegt, ist nichts anders als eine Versammlung von (sprachlichen) Gestikulationen, die mit ihrem Dasein prahlen. Und die Landschaft, der Berg selbst erscheint wie ein Film, auf dem die Tonspur — also die Sinnspur — abgeschaltet ist, so dass nichts anderes übrigbleibt als ein aufklärerischer Marktschrei dieses Tatsachengewimmels, durchdrungen von einem lächerlichen Anspruch auf Vorhandensein. 

Der Beobachter ist umstellt von Namen und Bezeichnungen, an die ihn kein Sinn-Vertrag mehr bindet. So verharrt er in sich selbst, steht in seiner Wahrnehmung still und  gibt den Dingen keinen Kredit mehr. Diese verharren ihrerseits eingehüllt in die Haut des Bekannten, des Sichtbaren, geordnet auf den musealen Sockeln ständigen Zugriffs und Erreichbarkeit.

Im masslosen Sich-Zeigen versammelt sich die Welt in sich selbst. Einsam und ruhelos sieht sich das Auge dieser Geschlossenheit gegenüber: die Landschaft zelebriert unerträglich sich selbst und ihre Fremdheit gibt ihr so unermesslich Vorsprung, dass keine menschliche Bemühung sie je wieder einholt. 

Erst in jenem Grenzbereich, dort, wo der Betrachter und seine von ihm zur Ausstellung versammelten Dinge selbst zu einem ungeheuren und um-fassenden Ausstellungsstück werden, sozusagen zur Nachbildung ihrer selbst in originaler Grösse, werden — kaum sichtbar zwar — feine Risse wahrnehmbar.

Als Imitat ihrer selbst unterscheidet sich diese Welt in keiner Weise von ihrem Originalzustand, bis auf den bedeutenden Moment des Verschwindens, der sie in etwas unvergleichlich Anderes verwandelt. Dann springt unversehens der Vertrautheitsfirnis über den Dingen, und etwas zugleich Uraltes und völlig Unbekanntes wird sichtbar.

In diesem Zustand gänzlichen Andersseins erweist sich dieses Territorium als trügerisch fremder Abgrund: was tausend Mal sichtbar und benannt war und was in der Tradition sprachlichen Sehens längst zu einer allen verbindlichen Daseinsgewohnheit erwachsen ist, verwandelt sich in etwas prähistorisch Fremdes:  Eine  sinnlose und riesenhafte Neuigkeit, unter Schönheit kaum mehr benennbar, schon eher unter Ungeheuerlichkeit.

DER WANDERER

" Wer nur einigermassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer -, wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Tor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Tor reicht, dass die Raubtiere bald ferner, bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zugtiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zorns, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz, Trug, Unsicherheit als vor den Toren — und der Tag ist fast schlimmer als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichts die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorbeitanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Gesichter, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer fröhlichen, bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: — sie suchen die Philosphie des Vormittages. "

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band, Paragraph 638

" Wieder auf dem Sprung gegenüber dem unbezwinglichen Aussen. Auge und Hand fiebernd nach dem Nicht-Selbst. Durch die von ihm unablässig veränderte Hand unablässig verändertes Auge. Zum Nicht-zu-Sehenden und Nicht-zu- Schaffenden vor - und zurückstossender Blick. Ruhe im Hin und Her und Spuren dessen, was es heisst, zu sein und gegenüber zu sein. Tiefe wunde Spuren."

Samuel Beckett, Für Avigdor Arikha



 Teil 2 Camera  Der Berg und sein Bild

Meine erste eigentliche Foto-Arbeit entstand im Herbst 1983. Ein Jahr zuvor hatte ich mit einer Amateurkamera auf dem Monte Prosa einige der üblichen Gipfelaufnahmen gemacht. An einem Tag, an dem ich länger als sonst auf dem Gipfel verweilte, fiel mir unversehens auf, wie sich in der Tiefe der Leventina Wolken zu bilden begannen, die sich zu koboldartigen Formen anhäuften, langsam aufstiegen und mich oben auf dem Gipfel bald einmal einhüllten. Einige Stunden später verschwanden sie wieder in ähnlicher Weise, wie sie gekommen waren,  zurück in den Nachmittag, ins Tal.

Dieses Schauspiel faszinierte mich derart, dass ich mich mit der Frage zu beschäftigen begann, wie ich diese transparenten Gestalten, welche sich unentwegt von Umriss zu Umriss wandelten, dem Zerfall durch die Zeit entreissen, wie ich über längere Zeit hinweg diese merkwürdigen Prozesse von Gestaltbildungen — die eher Geschichten glichen — festhalten könnte. Ich suchte nach einer Möglichkeit, mittels einer automatischen Kamera, hoch oben im Gebirge positioniert, diese im unwegsamen Territorium dem Menschen selten zugänglichen Prozesse, nachzugehen

Dazu rekognoszierte ich viele Standorte, machte Versuche mit verschiedenen Apparaturen und machte im Herbst 1983 mit einer von Nikon zu Versuchszwecken geliehenen F-3, die ich noch kaum zu bedienen wusste, meine erste Bilderserie. 

Als ich diese Serie von insgesamt 117 Aufnahmen — die sich im 30sec-Intervall folgten — auslegte, wurde mir zum ersten Mal deutlich, wozu ich das Medium Fotografie verwenden könnte: als Skizzenbuch, das die vielfältigen und raschen Sequenzen der Naturerscheinungen festzuhalten vermag. 

Aufgrund dieser ersten Serie fand ich einen Sponsor, der mir durch einen Beitrag die Entwicklung und Realisierung einer automatischen Kamera-Station ermöglichte: eine auf 3000 m.ü.M. fest installierte, wintersichere Kamera-anlage mit Grossmagazin und einem eigens hierfür entwickelten Computer für die Zeitauslösung. Neben dieser permanenten Installation auf dem Gemsstock, die zwischen l984 und l990 ununterbrochen im Betrieb war, begann ich selbst durch das Territorium zu wandern und an verschiedenen Orten und während mehreren Jahren fotografische Aufnahmen zu machen.

Dabei entdeckte ich eine zentrale Geste der Fotografie: die Lauer.

DIE LAUER

Der Fotografie wohnt eine eigene Erfindungskraft inne, eine besondere Form der Beobachtung: die Bewegung des Sehens verdichtet sich in der Bewegung des einzelnen Bildes durch die Apparatur der Fotografie. Die Bewegungen der Augen rufen das Bewusstsein zur Erinnerung, zur Teilhabe am Gesehenen. Ein eigenes Gedankensystem vis-à-vis der Welt entsteht, balancierend zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Variationen des Eindringens in den Raum: Subjektives, wie die Bewegung der Augen, wird objektiv und Objektives, das fotografische Bild, wird — auf einer anderen Ebene — subjektiv, wird zur inneren Projektion: das abermalige Auge (des Betrachters der Fotografie) sammelt und dirigiert die Bilder und erweckt sie zum Leben. Die Bewegung der Fotografie engt die Bewegung des Auges ein, führt sie aber auch in die Tiefe des Raumes, und so weit über jene Felder hinaus, die das Auge üblicherweise noch aufnehmen kann. Dieser programmatische Zugriff vis-à-vis der Welt wird mithin zu einer Sprache, erreicht eine eigene, unverwechselbare Bildstruktur, ein eigenes Gedankensystem. 

Die Fotografie ist ein Bild von Begriffen. Sie saugt alles auf, jedes Geschehen wird zu einer wiederholbaren Bewegung, führt hinein in eine Art ewiges Gedächtnis. Im Dialog mit dem Sucher, dem Input für das Subjekt zur Objektivität der Welt, wird die Welt synthetisiert.

 Stawrogin:             ...In der Apokaplypse verkündet der Engel, dass es keine Zeit mehr geben werde.

Kirillow:          Ich weiss. Das steht dort sehr nachdrücklich, unmissverständlich und klar. Wenn jeder Mensch glücklich ist, dann wird es auch keine Zeit mehr geben, weil sie dann gar nicht mehr gebraucht werden wird. Ein sehr richtiger Gedanke.                                                

Stawrogin:             Aber wo wird man sie dann verstecken?

Kirillow:               Man wird sie nirgends verstecken. Die Zeit ist schliesslich kein Ding, sondern eine Idee. Sie wird im Verstand verlöschen.                                                   

 aus: Fjodor Dostojewskij: Die Dämonen

BIOGRAFIE IV 

Dem naiven Betrachter stellt in den Fotos sich die Welt selbst dar, scheint das Universum sichtbar zu werden.

Doch der Fotoapparat ist in erster Linie ein Programm. Der Blick durch den Sucher gibt nicht den Blick auf die Welt der Erscheinungen frei, sondern sucht nach neuen Möglichkeiten, Einblick in die Welt zu nehmen.

Jede fotografische Bildstruktur erschafft sich über das Programm des Apparates, insbesondere über die Brennweite der Optik. Je weniger ein Ausschnitt durch die Brennweite begrenzt ist, umso schwieriger wird Benennung, also sprachliche Bestimmtheit, umfasst doch der (weitwinklige) Blickwinkel eine endlose Kette von Tatsachen, die sich einer Benennung entziehen.

In den Anfängen meiner Fotoarbeiten habe ich mit Vorliebe mit extremen Weitwinkelobjektiven (20 mm) gearbeitet. Ich wollte die grenzenlose Fülle der Landschaft, ihre Monstruosität möglichst ohne Eingrenzung festhalten. Erst später ist mir bewusst geworden, wie ich durch diese Wahl in eine Sprachlosigkeit, in das Unaussprechliche der Landschaft selbst eingetaucht bin, und dass so etwas wie "Föteli" — wie die Sprachlosigkeit eines fotografischen Bildes diskreditierend auch bezeichnet wird — entstanden sind. Der Begriff "Föteli" verweist immer auch auf einen Ausdruck, der eine "archaische Identität" mit dem abgebildeten Gegenstand ausdrückt.

Vielleicht steckt aber auch in jedem Bild unbewusst immer wieder das Ganze, ist Ausdruck unmittelbaren Verstehens. Im Lauf der Zeit hat sich mein Interesse verlagert auf Brennweiten (!) zwischen 80 und 200 mm. Die Ausschnitte wurden kleiner (und bestimmter), konzentrierten sich nicht selten auf einige Quadratmeter Gelände, über Jahre hinweg.

DIE PATINA DER ZEIT

Alle energiegeladenen Vorgänge weisen eine eigentümliche Neigung zu Rhythmisierung auf. Viele Völker der Welt organisieren sich gegenüber der Fremdheit der Welt durch Rhythmisierung: das Eingehen, Untertauchen in der Welt wird durch eine Art Uebersprungsreaktion vermieden: die durch Behinderung blockierte Energie macht sich etwa als Trommeln und Kratzen oder als rhythmisches Ritzen von Rillen in Stein bemerkbar. Daraus entstehen mit der Zeit immer tiefere Rillen, die entstandenen Liniennetze werden zur Geometrie.

Der Rhythmus ist der klassische Modus zur Einprägung bestimmter Vorstellungen: das was eingeprägt wird, beginnt sich in stetigem Bezug zu ordnen und kann hinüberführen zu einer neuen, eigentlichen Form, zu einer bewussten Gestalt gegenüber fremder Ungestaltigkeit.

Die zyklische Zeit fördert behutsam das Wesen der Welt zutage, macht die Spuren des Wachstums sichtbar, das Glatterwerden des Steins im Flusslauf, die Zeichen des Alterns im Gras – das japanische SABA, das Siegel der Patina der Zeit.

 

DIE LANDSCHAFT DER ZIVILISATION

Erst nach vielen Jahren der Präsenz des im Liniennetz der Rhythmisierung sich manifestierenden Bildmaterials hat sich mir ein Entwurf gegenüber der Selbstbezüglichkeit der Landschaft entfaltet:

Zum Urgestein der Welt sind die topografischen Tatsachen, ist die Landschaft der Zivilisation gegenübergetreten.

Da keine Tatsachen ausserhalb des Bewusstseins exisitieren, stehen die topografischen Tatsachen für das Bewusstsein der Zivilisation selbst. Geografische Tatsachen werden austauschbar mit historischen, ethnologischen, philosophischen, künstlerischen. Im abstrakten Begriff schliesst sich der Prozess der Auseinandersetzung mit der den Betrachter zu verschlingen drohenden, selbstbezüglichen Welt. Wort und Bild stehen nach langer Beobachtung durch die Sprünge im Vertrautheitsfirnis als selbständige Träger einer letztlich nicht rationalisierbaren, dynamischen Energie da.

Als Bild-Serien sind sie beobachtende Repräsentanten zivilisations-geschichtlicher Entwicklungsstadien. Die logische Struktur der Benennung steht der Selbstbezüglichkeit der Welt gegenüber. Reine Landschaft ist Verrücktheit ohne Inhalt, das menschliche Auge vor Beginn der Betrachtung ist umzingelt von Dingen, die es nichts angehen.

Entsprechend reflektieren die Bilder und ihre Titel nicht die Landschaft, sondern die Struktur der Wahrnehmung, die Tatsachen des Betrachters und der ihn tragenden Zivilisation. Ihre eigentliche Natur ist sprachlich. Sie benennen das Sagen vis-à-vis dem Sich-Zeigen. Es sind keine Titel vor der Welt, sondern der (sich langsam vortastenden) Sprachstruktur der Tatsachen. Sie zeigen den Zustand des Denkens, die dem (betrachtenden) Bewusstsein zugehörende Organisation von Energie: benachbart mit Tänzen, Städten, Denkern.

Nur in dieser Form bezeugen die Bilder Bewusstsein, nur so sind sie dem Menschen erträglich, auch wenn sie eine eigentümliche Neigung haben, sich immer wieder zu verflüchtigen, den Betrachter in seine eigene Imagination zurückzuführen und sich als Bild währenddessen wieder in etwas fremdhaft Anderes, Ungeheuerliches zurückzuverwandeln.


BIOGRAFIE V

 Der Ungeheuerlichkeit gegenüber steht die Haltung: Bewusstsein und handelnder Umgang. In der Reflexion entwickelt sich immer auch Distanznahme, nicht nur zur Welt, auch zum betrachtenden Individuum selbst. Das Gotthardprojekt entwickelt sich so als Prozess, der in steter Bewegung versucht, die freien und ungebundenen Möglichkeiten der Welt — hier konkret: dieser Landschaft — wie sie sich in der (naiven) Betrachtung zeigt, einzukreisen. Was sich darin als ästhetisches Bewusstsein zu manifestieren sucht, ist stets Konfrontation mit der ganzen Zivilisation. Der Blick ist nicht getragen von jener unbedingten Vitalität, die in seliger Gelassenheit die freien Möglichkeiten der Welt um sich erschaut, den Zug der Wolken, das Spiel des Lichtes auf dem Wasser, die Spuren auf der Erde, das Glitzern des Sonnenlichtes auf den nassen Blättern, in denen das vielgestaltige Ganze triumphiert. Die Einladung zur Freiheit der visuellen und imaginativen Assoziation ist noch bestimmt durch die artifizielle Anordnung eines Gemachten, das suggestiven Intentionen folgt.


 Teil 3

Arbeiten

Die Landschaft des Berges ist kein Objekt, legt keine Form nahe. Die Weite der Landschaft, die sich auf ihren Gipfeln mit jener des Meeressaum verbindet, ist eine innere Unermesslichkeit. Sie entsteht aus Schichten von Eindrücken, die sich wissenschaftlichem Messen wie künstlerischem Formen immer wieder entziehen.

In tausendfältigen Unterlagen und Blickwinkeln, hat sich behutsam eine künstlerische Praxis entwickelt, die sich nicht nur der Dominanz des Berges gegenüber behaupten muss, sondern auch darauf bedacht ist, nicht vorschnell zwischen die Klippen fremder Formen oder des hungrigen Magens des Kulturbetriebes zu fallen.

Im bisher freigelegten Fundus entfaltet sich die Landschaft in mehrstöckigen, diskursiven angelegten — d.h. miteinander in Verbindung stehenden —Plattformen. Dazu gehören neben dem fotografischen Archiv, das mit seinen mittlerweile über 160 000 Aufnahmen sowohl als Gedächtnis wie als Skizzenmaterial dient, vorab die Bibliothek und die szenischen Ereignisse.

  

“ It's always a little bit suspect to look at something really beautiful like an experience in nature and want to make it into art. My desire is to set up a situation to which I take you and let you see. It becomes your experience. The sites I like to use are ones that, in general, have no function, spaces that are really only inhabited by consciousness. This inhabiting of space by consciousness is the entry of self into space through the penetration of vision, which is not limited to just that received by the eyes but also has to do with the entry of self into what is "seen". A lot of spaces are interesting to me when they're generated not by the architecture of form but by the overlay of thought. I'm also interested in public places that are devoid of their function – Mayan an Egyptian ruins, for example, and places such as Mesa Verde. These civilizations adapted natural amphitheatres by building within them to create civic spaces. The fact that they are places of ceremony and ritual and are themselves physically powerful makes them meaningful. The impact of the space of the Gothic cathedral, for example, and the light within is much more interesting to me than the rhetoric that is spoken there. “

James Turrell in: Mapping Spaces




DIE  PLATTFORM  DER  BIBLIOTHEK

Ist die Kamerarbeit wesentlich von meiner Präsenz im Gelände abhängig und liefert sich diesem programmatisch aus, so ist die Bibliothek eine Art Verbindungsraum zwischen dem amorphen Zeichenvorrat der Natur und dem Themenrepertoire der Zivilisation.

Die Objekte des Ichs gegenüber der Landschaft des Berges sind die sogenannten Drehbücher. Ihrem Aufbau liegt ein serieller Gedanke zugrunde und dadurch bilden sie gleichsam auch eine Art Bibliothek.

Diese Drehbücher sind Szenarien von Sehweisen, stellen Ablagerungen von kondensierter Energie des Vorgangs verschiedenster Formen der Betrachtung dar. Ihre Systematik hat den Grundstein zu einer Art Bibliothek gelegt, die eine Art kollektives Gedächtnis darstellt. Es handelt sich im einzelnen um grossformatige Folianten (Format 50 x 70 cm) welche jeweils mehrere Dutzend Blätter enthalten mit verschiedenen Radiertechniken, Texten, Fotografien, Objekten.

 

Bisher erschienene oder in  Arbeit befindende Bände:

 - "Vor Aufgang des Sirius"

- "Der unsichtbare Grund der eigentlichen Sympathie"

- "Celina oder der figurative Vertrag"

- "Die Errungenschaft" 

- "Saba" - die Patina der Zeit 

"Prapantschi" (="Herausfünfen"- die Platten und Arbeiten im Zusammenhang mit der PRIMA LINEA)

 

DIE PLATTFORM DER UNMITTELBARKEIT

Neben den Ausdrucksformen der Camera und der Bibliothek, welche gegenüber der Landschaft auf eine sichere, sozusagen städtische Distanz gehen, suche ich in Arbeiten im Gelände (die ich als Erdarbeiten bezeichne) und in Inszenierungen in der Landschaft selbst (Szenografie genannt — eine Verbindung von tableaux vivants und szenischen Ereignissen) eine Unmittelbarkeit der Präsenz im Gelände zu erreichen, zusammen mit Teilnehmern, die sich auf dieses Spiel einlassen.

Diese Arbeiten beziehen sich auf spezifische Orte im Gelände. Als Momente der Imagination sind sie ein Konglomerat verschiedener Wirklichkeiten: solche der Materie und des Geistes, der Zitate der Zivilisation und der Träume, der Beobachtungen vor Ort und der Tiefe der Erinnerung.

Verschiedene Ausdrucksformen finden darin Anwendung: Feuer und Feuerwerk, Szene und Text, Musik und Stille...

Zur Realisierung dieser einzelnen Vorhaben ist im Laufe der letzten Jahre ein technische Equipe zusammengewachsen. Sie besteht aus einem Team von Spezialisten wie Pyrotechniker, Konstrukteure, Taucher usf.— kurz von Leuten, welche dank ihrem grossen und innovativen Einsatz derartige  Realisationen erst möglich machen.

 SZENOGRAFIE

Die für mich direkteste Form der Begegnung - und jene, mit der ich mich am meisten identifiziere, sind die Szenografien. Im September 1990 habe ich eine erste solche Arbeit auf dem Hochplateau des Posmeda auf 2500 m.ü.M. gezeigt.  Flaggen säumten den Weg, der zu dieser Plattform führte. Die Arbeit trug den Titel "Die Schwalben die in der Luft fliegen öffnene den Felsen, der den Kindern verborgen bleibt". Eingebettet in eine Rahmenhandlung einer Expeditionsgesellschaft, die sich auf dieser Plattform einfindet wurden mit dem Hereinbrechen der Nacht 7 Fundstücke vorgezeigt, Reiseberichte und dazugehörende Vögel. Während der Erzähler vom Sichten und Entziffern dieser Fundstücke berichtete, entzündeten sich die etwa 5 auf 5 Meter grossen in den Raum gestellten Vögel, begleitet durch die Improvisationen des Sopransaxophonisten Steve Lacy, bis sich gegen Schluss hin der Berg dahinter, der Pizzo Centrale - die höchste Erhebung im Gotthard - selbst entzündete.

Ganz wunderlich beginnt der Text des vierten Vogels:

" Und derweil ich döste, fast schlummernd schon — plötzlich ward ein Tappen laut, als ob einer leise pochte, pocht' an meine Tür. "Nur ein Gast", sagt ich mir im Stillen, "klopft an meine Kammertür, einzig das, und weiter nichts." 

Und so beginnt die vierte Stunde, die Stunde des Adlers, den die Strahlen der Sonne nicht blenden können, der die heimischen Winde wieder zurückbringt, den Nordwestwind, die Bise, den Föhn.

Die Menschen vor Zeiten hatten diese Art, dem Wind die Stirn zu bieten: Sie wurden Sucher nach Strassen und freien Wassern, Erzwinger von Fährten gen Westen und gen Süden, durch die Schluchten und Tobel unter der Last der Jahre. Als Fronvögte und abenteuerliche Legatare, die zu Eisenpreisen die hohen unbezwungenen Pässe verhandelten, und jene fernen Lager neuer Meere hoch am Himmel mit ihrem Mörser aus fahlem Stein unter sich begruben.

Und der Adler über den Pässen, hingenommen vom Schwung seines Fluges, hält Audienz im Schatten dieser Lager: "Wahrhaftig, ich träume inmitten dieser plattnasigen Götzen. Ich träume inmitten dieser Witterer von Bernstein und Diamanten, inmitten dieser grossen Durchspäher der Runzeln der Erde und Entzifferer der Zeichen im Kindesalter. Wie suchen sie doch in Graphit und Uran die goldene Mitternacht."

Und lautlos empfiehlt mein Gast sich wieder an der Kammertür. Von Ferne noch hör ich seine Stimme: "Rühre dich nicht, lasse den Wind reden. Das Zeitwort ist "Sehen", nicht "Weiterziehen." "

Text aus der Szenografie Posmeda, der Text zum IV. Akt, Adler 

Eine weitere Szenografie, Lucendro, konzentriert sich auf die Umgebung und das Innere der Staumauer Lucendro - ein rund 10 km2 grosses Gebiet inmitten des Gotthards. Die Szenografie Lucendro ist zyklisch aufgebaut, wird zwischen 1993 und 1999 kontinuierlich erweitert und jeweils im September einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.

Das wohl augenfälligste Objekt bildet dabei die Staumauer mit ihren Kammern. Diese Kammern sind allein schon ihrer architektonischen Dimensionen wegen imposant. Das Äussere der Mauer gibt allerdings keinen Hinweis auf dieses Innenleben, auf diese durch eine rein funktionale Ästhetik geformten Räume. Wer diese Kammern einmal betritt, wird von ihnen umschlossen. Höhlen, unterirdische Kammern sind seit Platon immer wieder als Körperhöhlen betrachtet worden. Thematisch verfolgt der ganze Zyklus LUCENDRO das Zusammenspiel von Leib, Erde und Universum und deren zeichenhafte Entwik-klung in der europäischen Neuzeit seit dem Trecento.

Die erste Szenografie dieses Zyklus, Lucendro Uno, befasst sich dabei spezifisch mit dem Leib und seiner äusseren, umrisshaften Wahrnehmung. Als eine erste szenische Skizze umreisst sie diese Grundthematik mit den Mitteln der Projektion. In den anschliessenden Jahren wird diese Auseinandersetzung dann vertieft durch die Thematisierung einzelner Organe (das Auge die Hand, die Nase, das Ohr usf.) und verschiedenen szenischen Mitteln, um schliesslich im letzten, siebten Jahr zu einer eigentlichen Synthese vorzustossen.

Der ganze siebenjährige Zyklus gibt allen Beteiligten Gelegenheit, in kontinuierlicher Weise eine Landschaft, Personen und Räume zu erfahren: über eine mehrjährig angelegte Auseinandersetzung mit einer markanten Schnittfläche zwischen Natur und Zivilisation.

In dieser Szenografie wird das anklingen, was ich bereits weiter vorne - Auclair zitierend - als promethische und franziskanische Vorstellungswelt bezeichnet habe. Dabei wird wieder das Element Feuer wiederum eine wichtige Rolle einnehmen. 

 

LA PRIMA LINEA

Die PRIMA LINEA ist eine Erdarbeit. Während vielen Aufenthalten im Gelände ist mir immer wieder aufgefallen, wie ich mich nicht gegen Norden, sondern gegen Süden hin orientierte. Immer wieder tauchte dabei als Hinwendung meiner Orientierung eine Stadt als Mittelpunkt auf: Mediolanum, das heutige Milano. Sicher gibt es auch hier historische Hintergründe, die Gründung einer vorromanischen Kirche auf dem Gotthard durch das mäiländer Episkopat, die Alte Sust gilt als der nördlichste lombardische Bau usf. Aber auch hier bin ich anderen Spuren nachgegangen: die Luftlinie zwischen dem Hospiz auf dem Gotthard und dem Mäiländer Dom (der übrigens auf einem keltischen Heiligtum errichtet worden ist und eine Art geodätisches Zentrum bildet), misst 130 km. Zufällig habe ich einmal auf einer grossen Karte diese Strecke mit einem Zirkel eingetragen, und  dabei eine interessante Feststellung gemacht: der Kreisbogen kreuzt im Norden die alte römische Stadt Augusta Raurica und im Westen Aventicum, mit einer Abweichung von wenigen hundert Metern. Anregung und Bestätigung über die Vorstellung von  energetischen Linien im Gelände. 

Das Projekt PRIMA LINEA basiert auf einem imaginierten Richtstrahl zwischen den beiden genannten Orten. Diese Linie führt durch Hochgebirge und urbane Regionen, erreicht den höchsten Punkt auf ca. 2600 m.ü.M. im Gebiet des Vesperos in der oberen Leventina, den tiefsten auf 96 m.ü.M. auf dem Grund des Langensees. Im Abstand von 1 km errichte ich sog. Erdstationen, das sind quadratische Bleiplatten im Format von 33 auf 33 cm, eingefasst in einen Acrylmantel. Auf der Oberseite der Platten sind die Himmelsrichtungen und die Entfernung zum Gotthard, auf der Unterseite Skizzen, rsp. Texte.eingraviert sind. Die Platten werden in etwa 100 bis 150 cm tief in der Erde versenkt und wieder zugeschüttet. Sie sind nach aussen hin unsichtbar und werden auch nicht markiert. Von jeder Erdstation exisitiert ein "Zwilling", eine analoge Platte, eingefasst in einer Kassette, in der Angaben über Standort und Eigenheiten des jeweiligen Ortes sowie eine Dokumentation über die Errichtung der Erdstation enthalten sind. Jede Errichtung einer Erdstation ist mit einer speziellen szenischen Veranstaltung verbunden, die mit den örtlichen Gegebenheiten in Beziehung steht.


 "Und abermals schlage ich die Seiten des Grossen Atlas auf. Manchmal genügt mir eine Lichtung in einer masslosen Landschaft, ein Aufleuchten von Lichtern im Nebel, der Dialog zweier Passanten, die sich im Gedränge begegnen, um mir vorzustellen, dass ich von hier aus die vollkommene Stadt zusammensetzen könnte."

Text auf der Unterseite der Erd-Station N0. 001 BRERA in Milano

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      

"Sinnliche Wahrnehmung ist nur die beginnende Vision, nicht die Ursache der Einsicht, sondern ist Einsicht selbst, die als eine frühere Macht in dem Prozess des Selbstaufbaus oder der Selbstentwicklung sich enthüllt."

 

aus: Coleridge: Biographia Litteraria, Kap. XII, These X

 

Camera

 

BIOGRAFIE IV




Dem naiven Betrachter stellt in den Fotos sich die Welt selbst dar, scheint das Universum sichtbar zu werden.

Doch der Fotoapparat ist in erster Linie ein Programm. Der Blick durch den Sucher gibt nicht den Blick auf die Welt der Erscheinungen frei, sondern sucht nach neuen Möglichkeiten, Einblick in die Welt zu nehmen.

Jede fotografische Bildstruktur erschafft sich über das Programm des Apparates, insbesondere über die Brennweite der Optik. Je weniger ein Ausschnitt durch die Brennweite begrenzt ist, umso schwieriger wird Benennung, also sprachliche Bestimmtheit, umfasst doch der (weitwinklige) Blickwinkel eine endlose Kette von Tatsachen, die sich einer Benennung entziehen.

In den Anfängen meiner Fotoarbeiten habe ich mit Vorliebe mit extremen Weitwinkelobjektiven (20 mm) gearbeitet. Ich wollte die grenzenlose Fülle der Landschaft, ihre Monstruosität möglichst ohne Eingrenzung festhalten. Erst später ist mir bewusst geworden, wie ich durch diese Wahl in eine Sprachlosigkeit, in das Unaussprechliche der Landschaft selbst eingetaucht bin, und dass so etwas wie "Föteli" — wie die Sprachlosigkeit eines fotografischen Bildes diskreditierend auch bezeichnet wird — entstanden sind. Der Begriff "Föteli" verweist immer auch auf einen Ausdruck, der eine "archaische Identität" mit dem abgebildeten Gegenstand ausdrückt.

Vielleicht steckt aber auch in jedem Bild unbewusst immer wieder das Ganze, ist Ausdruck unmittelbaren Verstehens. Im Lauf der Zeit hat sich mein Interesse verlagert auf Brennweiten (!) zwischen 80 und 200 mm. Die Ausschnitte wurden kleiner (und bestimmter), konzentrierten sich nicht selten auf einige Quadratmeter Gelände, über Jahre hinweg.

  

Camera

 

DIE LAUER

 

Der Fotografie wohnt eine eigene Erfindungskraft inne, eine besondere Form der Beobachtung: die Bewegung des Sehens verdichtet sich in der Bewegung des einzelnen Bildes durch die Apparatur der Fotografie. Die Bewegungen der Augen rufen das Bewusstsein zur Erinnerung, zur Teilhabe am Gesehenen. Ein eigenes Gedankensystem vis-à-vis der Welt entsteht, balancierend zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Variationen des Eindringens in den Raum: Subjektives, wie die Bewegung der Augen, wird objektiv und Objektives, das fotografische Bild, wird — auf einer anderen Ebene — subjektiv, wird zur inneren Projektion: das abermalige Auge (des Betrachters der Fotografie) sammelt und dirigiert die Bilder und erweckt sie zum Leben.

  

Die Bewegung der Fotografie engt die Bewegung des Auges ein, führt sie aber auch in die Tiefe des Raumes, und so weit über jene Felder hinaus, die das Auge üblicherweise noch aufnehmen kann. Dieser programmatische Zugriff vis-à-vis der Welt wird mithin zu einer Sprache, erreicht eine eigene, unverwechselbare Bildstruktur, ein eigenes Gedankensystem. 

Die Fotografie ist ein Bild von Begriffen. Sie saugt alles auf, jedes Geschehen wird zu einer wiederholbaren Bewegung, führt hinein in eine Art ewiges Gedächtnis. Im Dialog mit dem Sucher, dem Input für das Subjekt zur Objektivität der Welt, wird die Welt synthetisiert.