1997 NATUR & SUBJEKT 

Referat anlässlich des Symposiums "Berg & Zeit" am  4. Oktober 1997 auf dem Hohen Kasten, Kanton Appenzell Ausserrhoden

 Was wissen wir von der Natur ? Was weiss die Natur von uns ?

Ein Satz von Paracelsus als Beginn einer Reflexion: "Wer die Natur erforschen will, muss ihre Bücher zu Fuss durchmessen." 

Was ist Natur? 

Wer bin ich? 

In den beiden Begriffen "Natur" und "Subjekt" liegt ein eigentümlicher Akt zugrunde: der Begriff der Geburt. NASCOR - geboren werden - etwas, was jeden Augenblick im Entstehen begriffen ist.

Was wissen wir von der Natur ? Was weiss die Natur von uns ?

Seit 1983 gehe ich dieser Frage nach, in einem kleinen Territorium inmitten der Zentralalpen Europas. 

Es gibt Landschaften, die einem begegnen wie Persönlichkeiten. Sie üben eine magische Anziehungskraft aus und sind doch nicht fassbar. 

Weder physische Anstrengung noch historische oder kartografische Vermessung können das Geheimnis dieser Faszination ergründen.

Aus Bergmassiven und Gipfeln, aus Winden und Wassern entwickelt sich ein Raum, eine Bedeutung, ein Gefühl – ein Gegenüber.

An den Rändern dieser Erde, am Horizont, dem Quellgebiet des Himmels, bündeln die Grenzlinien des Raumes sich nochmals zu einer eigentümlichen Kraft.

Was wissen wir von der Natur ? Was weiss die Natur von uns ?

 "Wenn ich nun aber diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?... Die Natur hat nur eine Schrift." 

So äussert sich der Montankundige zu Wilhelm in Goethes Wanderjahren.  Benachbarungen kommen ins Spiel. Erfahren wir aus der Natur, wer wir sind?

"Wird nicht der Fels ein eigentümliches Du, eben wenn ich ihn anrede?...Ob jemand die Steine und Gestirne schon verstand, weiss ich nicht...Könnte die Natur nicht über den Anblick Gottes zu Stein geworden sein? Oder vor Schrecken über die Ankunft des Menschen?" schreibt der Bergbauingenieur Friedrich von Hardenberg als Novalis - zu einem Zeitpunkt, an dem die Rationalität menschlichen Tuns dem Berg seine Lebendigkeit auszutreiben wusste und das Subjektive, Lebendige sich nur noch in den Abendstunden zu äussern vermochte. Was als Gefühl vor sich selbst noch eingestanden werden konnte, war gesellschaftlich gesehen schon privat geworden. Eine lebensgeschichtliche Erfahrung wurde zugunsten der Aufrechterhaltung eines eingespielten (neuen) gesellschaftlichen Konsens abgespalten und dem Vergessen anheimgestellt. Das ist beim Bergbauingenieur Hardenberg exemplarisch. Subjektivität gesteht er sich nur noch unter dem Kunstlabel "Novalis" zu. seit dem 18. Jt. wird das Subjektive im Umgang mit Natur zunehmend verdrängt. Diese Energie findet sich nur noch in den gesellschaftlich marginalisierten Zonen der Kunst wieder. Sie ist zu einem Teil dessen geworden, was Sigmund Freud einmal als "inneres Ausland" bezeichnete. Die nunmehr verlorene Sprache der Natur überlebt noch knapp im hermetischen Erbe der Poesie. Für die Gesellschaft als Ganzes ist diese Energie jedoch mit dem Diktat des Vergessens belegt, ist ausgelagert, exkommuniziert.

Was wissen wir von der Natur? Was weiss die Natur von uns?

Ist unsere Sprache nur eine unter vielen?

Spricht auch der Stein?

Spricht auch das Universum?

Gibt es eine Lehre von den Signaturen - das hiesse, dass alle Dinge als Zeichen zu lesen wären?

Und dass unsere Wörter "Übersetzungen" sind der stummen Reden, die die Dinge mit uns führen?

Diese Fragen muten seltsam an in einem Zeitalter, das Divinität mit Digitalität ausgetrieben hat, in einem Zeitalter, das die All-Verbundenheit des Menschen mit Gott durch die All-Verbundenheit in elektronischen Netzwerken ersetzt haben will.

Es ist kein Zufall, dass sich diese Fragen gerade in der Auseinandersetzung mit dem Berges stellen; denn im Umgang mit dem Berg zeichnet der europäische Mensch eine markante Spur seines Umgangs mit Natur und formte und formt so seine eigene Geschichte .

Mit der schrittweisen Eroberung der Berge beginnt in Europa die Neuzeit. 

Der Mensch nimmt von den Heiligen Bergen, den Sitzen der Götter, den Aufenthaltsorten von mythischen Geistern und Ereignissen, Abschied. Stattdessen findet er Erze und Gold, schnellere und sichere Verkehrswege. Im Prozess seiner Zivilisation entheiligt er die Vorstellungen über die Natur - mit entsprechendem Preis: Dem Gewinn an Autonomie durch Technik entspricht der Verlust der Bedeutsamkeit der Natur. Als die Meere schon längst alle befahren werden, bleiben die Alpen terra incognita. Die scheinbare Wiederentdeckung des Berges im Höhenrausch im 19. Jahrhundert erwächst am Überdruss an der zivilisierten Welt. Wie die Erkundung der Kontinente erschöpft und die Erde verteilt ist, werden nunmehr Gipfelstürmer zu neuen Helden. Bestiegen, erobert, vermessen, katalogisiert - der letzte Rest an Ungewissheit wird beseitigt. Die Häupter der Berge werden fortan mit Gipfelkreuzen geziert - gleichsam als Siegszeichen, das sich über den Stein erhebt.

Und heute? 

Was bleibt von den Erinnerungen, den Symbolwelten, in denen seit Urzeiten die Achtung vor dem Gebirge aufbewahrt ist ?

Was wissen wir heute von der Natur ? Was weiss die Natur heute von uns ?

Die Verdrängung der Natur und des Subjektes sind das langfristige Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen. Während die Wissenschaft in einem Prozess steter Rationalisierung Natur entmaterialisierte und Subjekte entseelte, reagieren Kunst (und tendenziell auch Philosophie) erinnerend wie verteidigend auf diese Verdrängungsprozesse. Darin liegt ein fundamentaler Aspekt gesellschaftlicher Relevanz von Kunst: Auf das Schwinden des Ich und das Sterben der Natur (hier nicht im ausschliesslich ökologischen Kontext gedacht) als historische Prozesse aufmerksam zu machen. Joseph Beuys bleibt darin exemplarisch wie er auch in der langen Tradition steht, die über Rudolph Steiner und Johann Wolfgang von Goethe zurückreicht an die ursprünge der Austreibung des Subjektiven aus der Materie zu Beginn der Neuzeit. 

Wohl steckt dahinter auch das Bild einer Sehnsucht, das den Zerstörungen und Entfremdungen der Moderne zu entgehen sucht. Als Kontrapunkt zum main-stream einer von wissenschaftlicher Rationalität beherrschten Gesellschaft sucht eine solche Reflexion jedoch weniger nach alternativen Heilkonzepten esoterischer Herkunft. Sie will weit mehr das Vergangene im Gegenwärtigen sichtbar machen - will als eine Form der Erinnerung an Konzepte von Natur und vom Menschen verstanden sein, die im Laufe des Zivilisationsprozesses zugunsten rücksichtsloser Rationalisierung geopfert worden sind. 

Stawrogin:                        ...In der Apokalypse verkündet der Engel, dass es keine Zeit mehr geben werde.                                                                                      

Kirillow:                            Ich weiss. Das steht dort sehr nachdrücklich, unmissverständlich und klar. Wenn jeder Mensch glücklich ist, dann wird es auch keine  Zeit mehr geben, weil sie dann gar nicht mehr gebraucht werden wird. Ein sehr richtiger Gedanke.                                                                                                                                                                                                                                                                                             

Stawrogin:                         Aber wo wird man sie dann verstecken?

Kirillow:                            Man wird sie nirgends verstecken. Die Zeit ist schliesslich kein Ding, sondern eine Idee. Sie wird im Verstand verlöschen.                                                                                                              

Um diesen Assoziationsraum noch weiter zu öffnen schliesslich noch ein Bild von Cicero:

" Man denke sich Menschen von jeher unter der Erde wohnen in guten und hellen Behausungen, die mit Bildsäulen und Gemälden geschmückt und mit Allem wohl versehen sind, was den gewöhnlich  für glücklich Gehaltenen zu Gebote steht; sie sind nie auf die Oberfläche der Erde hinausgekommen, haben jedoch durch eine dunkle Sage vernommen, dass es eine Gottheit gebe und Götterkraft; wenn diesen Menschen sich einmal die Erde auftäte, dass sie aus ihren verborgenen Sitzen aufsteigen könnten  zu den von uns bewohnten Bezirken, und sie hinausträten und plötzlich die Erde vor sich sähen und die Meere und den Himmel, die Wolkenmassen wahrnähmen und der Winde Gewalt."

(Eine erste Fassung dieses Textes wurde anlässlich des Symposiums "Berg & Zeit" am 4. Oktober 1997 auf dem Hohen Kasten gehalten.)