2007 In der Entscheidung scheiden sich die Geister

Baustelle LAAS Vinschgau  29. März 2007 Workshop mit Gion A. Caminada

oder:

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Der begrenzte Kreis ist rein (Franz Kafka) 

Reflexionen zur Ensemblenutzung Laas 

Für Ihre Auseinandersetzung mit ihrem Lebensraum, mit diesem konkreten ORT hier haben sie mich gebeten, als Einstieg einige Gedanken mit auf den Weg zu geben. Gerne!

Zu sprechen ist über:

Wahrnehmung Tradition Orte Zukunft Sinne

 Gion Caminada hat eben vom Verhältnis zwischen Ähnlichkeit und Differenz gesprochen. Genau davon wird im folgenden zu reden sein. Meine Ausführungen oszillieren um dieses Spannungsverhältnis zwischen Bekanntem und Unbekanntem.

Wir brauchen Ähnlichkeit, denn sie schafft Vertrauen, Bestätigung; wir brauchen aber auch Differenz, Unvertrautes, um eine Entwicklung eben erst in Gang zu bringen. Das allerdings hat auch seinen Preis:  Frustrationstoleranz ist erforderlich, damit Differentes, Unbekanntes sich überhaupt erst entfalten kann..

In diesem Sinnen werde ich im folgenden Ihnen zwar Bekanntes vermitteln, aber mit Unbekanntem vermischen, in der Hoffnung, Ihnen neue Prespektive eröffnen zu können.

 

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SAAL

ASAL

LASA

LAAS

LAAS

LASA

ASAL

SAAL

 Orte begegnen einen mit Namen, klangvoll vielversprechend oder nichtsssagend, Orte erscheinen als räumliche Ausdehnungen, bisweilen mit markanten Zeichen durchsetzt. 

Darüberhinaus haben Orte aber auch einen mythischen Kern, generieren Geschichte und Geschichten. Ein solcher Kern umschliesst ganz verschiedenartige Teile; oft sind diese unmittelbar sichtbar, sind offenkundig, manifest. Ein Ort ist an einem bestimmten Übergang an einem Flusslauf entstanden oder an einer Quelle. Oder er liegt am Kreuzungspunkt von Verkehrswegen. Motive gibt es viele und die jeweiligen Ortsgeschichten belegen die Hintergründe. 

Aber hinter all dem Sichtbaren, Erklärbaren bleibt immer auch etwas Unausgesprochenes, etwas Unsichtbares, etwas Geheimnisvolles. Vielleicht ist es ein Klang, der in einem Namen mitschwingt, eine Assoziation und mithin öffnet sich ein Tor zu etwas ganz anderem. 

Mit konkreten Orten und deren Schwingungen ist nicht selten auch die Idee von Heimat verbunden oder Momente aus der Kindheit und letztlich sind es immer auch Geschichten, die diese Orte umkreisen.

Dennoch haben alle Orte wechselvolle Zeiten. Verblasst das Geheimnis eines Ortes oder ist es bisweilen gar nicht mehr aufzufinden, so entsteht ein Vakuum und dann ruft man nicht selten Marketing und Design auf den Plan, um dieses Loch wieder zu füllen. Damit aber sucht man letztlich nur Versatzstücke, beruft sich auf etwas Manifestes, Bekanntes und inszeniert Zeitgeist, während das Geheimnis doch immer unaussprechlich bleibt.

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Der Stoff sieht jedermannn vor sich,  den Gehalt findet nur der,  der etwas dazu zu tun hat und die Form ist ein Geheimnis den meisten.

Goethe, Maximen und Reflexionen, III (in Hohl p.229)

Orte gründen auf Geheimnissen, entstehen aus Umkreisungen. Ein exemplarisches Beispiel ist das lombardische Mediolanum, das heutige Milano – entstanden aus Umkreisungen um einen Mittelpunkt: einst keltisches Heiligtum, dann christliches, später Designerstrasse. 

Mit der Entwicklung von Orten verbunden ist immer auch eine entsprechende Interpretation von Lebensräumen, von Themen.

Orte funktionieren wie Orbiter: sie sind umgeben von Umlaufbahnen von Themen, die um ihren Ortskern kreisen. Jeder Ort kennt solche Umlaufbahnen von Themen. Sie begründen seine Essenz.

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Ein wahres Zeichen  muss nicht bedeuten,  sondern sein.

Präzise Lokalisierung, örtliche Präsenz in früheren Kulturen war ein massgebendes Prinzip. Menschen trafen sich an bestimmten Orten, zu bestimmten Ereignissen.

Der Gang dorthin war bereits ein Ereignis, eine Linie, mit welcher Raum koordiniert wurde und seine Koordinaten erhielt. Raum war eine Einheit, die durch ein Ereignis, bzw. reale Präsenz Gestalt erhielt.

Erst der Ereignisort definiert den Raum, das Ereignis selbst zieht die Grenzen des Raumes. Der Raum ist ein Wirkungsfeld, ein Feld, von dem gesagt werden kann, dass es hier oder dass es dort ist. 

Mit der technologischen Entwicklung – allen voran im Bereich der Antriebe, der Kommunikation – und mit der Dynamisierung der Arbeitsethik und Technik, letztlich mit der Mechanisierung von allem, was bislang elementar an die fünf Sinne, die Überlieferung und das örtlich gegebene Material gebunden war, beginnt sich das Bild der Welt gründlich zu wandeln. 

Die kleinen Kreise der Lebenswelten, die während Jahrhunderten der Tradition gefestigten Ensemble, erhalten Risse, öffnen sich hin zur Neuen Welt.

 

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Erlebniswelt powerpoint

In der modernen Welt zeigen sich die Dinge in wachsendem Masse nur noch abstrakt, ohne Raum, ohne Zeit. Die digitale Technologie erfordert keine gemeinsame örtliche Präsenz mehr. Und sie wandelt die Grundvoraussetzungen unserer Wahrenehmung der Welt und deren Interpretationen fundamental.

Vor der Neuzeit besass das menschliche Auge neben seinen alltäglichen Einzeleindrücken einen klaren Bezugspunkt: die Schöpfung und die ganze Erde. Das heutige Auge verliert nicht nur seine ihm eiene Perspektive, sondern auch seinen klaren Bezugsraum. 

Stattdessen lösen sich nun ständig wechselnde Ambiente ab, mutieren zu Szenerien, die ihren Reiz ephemer in der Zeit entfalten um alsbald wieder spurlos zu verschwinden. Das Auge selbst ist mit einem permanenten Ablauf von Bildern konfrontiert, und diese wiederum erscheinen in simulierten Räumen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist der Beobachter umstellt von Namen und Bezeichnungen, an die ihn kein Sinn-Vertrag mehr bindet. So verharrt er in sich selbst, steht in seiner Wahrnehmung still und gibt den Erscheinungen keinen Kredit mehr. Die Erscheinungen verharren ihrerseits eingehüllt in die Haut des Bekannten, des Sichtbaren, geordnet auf den musealen Sockeln ständigen Zugriffs und ständiger Erreichbarkeit. Der Mensch hat sich eine Welt geschaffen, die in diese Superstrukturen der Benennung geordnet ist: geordnet in Bergführern, Museumsführern, Chroniken, Plausibilitäten, restlosen Enthüllungen. 

Doch was damit letztlich vorliegt, ist nichts anderes als eine Versammlung von sprachlichen Gestikulationen, die mit ihrem Dasein prahlen. 

Lassen Sie mich Sie kurz etwas fordern mit einem Exkurs und  die  geistesgeschichtlichen Linien nachzeichnen, die bei uns in Mitteleuropa zu dieser schönen Neuen Welt geführt haben.

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In der Entscheidung scheiden sich die Geister

Die moderne Wissenschaft orientiert sich nicht mehr an Symbolbegriffen, sondern an Systembegriffen, d.h. an von Menschen geschaffenen instrumentellen synthetischen Welten. Nicht mehr sinnlich wahrnehmbare Erfahrung, sondern instrumentelle, experimentelle Exploration wird jetzt generiert. Das Denken setzt sich so auf Distanz zu den über die sinnlich erfahrenen Bilder.

Im "epistemologischen Bruch" (Foucault) wird das materielle Universum fortan nicht mehr als sinnlich erfassbares, sondern als mathematisches, logisches Zeichen interpretiert. Dadurch werden riesige Bestände an Erfahrungswissen ausgelöscht.  

Dieser Bruch ist einzigartig und singulär. Und seine Konsequenz ist weitreichend: Vormodernes Wissen des Naturumgangs wird irrationalisiert, in den Aberglauben, die Täuschung, den Schein, in den Irr- und Wahnsinn abgetrieben oder durch Diskursdifferenzierung in Literatur und Kunst abgeschoben.

Die Trennung von lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Erinnerungen zwecks Aufrechterhaltung von bestimmten Vorstellungen, die in der Praxis des Alltags anders nicht haltbar sind, bezeichnet die Psychoanalyse als "Verdrängung". 

Analog zu diesem Prozess, der sich im Individuum abspielt (und in der Regel auch nur dort thematisiert wird) sind aber auch in einer Kultur insgesamt Prozesse der Verdrängung sichtbar, die eben demselben Ziel dienen, nämlich Konsens sicherzustellen und Dissens zu eliminieren - hier nun allerdings auf der Ebene der Gesellschaft. 

So wie das Individuum sich emotional von den verdrängten Inhalten distanziert und diese zurückweist als nicht ihm zugehörig, so lagert auch eine Kultur ihr nicht genehme Themen aus, weist sie Ghettos zu, verstümmelt oder irrationalisiert sie.

Diese Verdrängungsleistung gehört zu den markantesten Erscheinungen der europäischen Zivilisationsgeschichte: die Durchsetzung des Profanwissens war verbunden mit einer intensiven Verdrängung des sakralkulturellen Naturumgangs.

Die verdrängten Wissensformen lebten (und leben) seither weiter in sozial irrelevanten Subsystemen (heute teilweise in Alternativszenen, in medizinisch umstrittenen Spezialformen, in latenten Omnipotenzphantasien des wissenschaftlichen Rationalismus oder aber in den Bilderwelten in Kunst und Literatur.

Lassen Sie mich da san einem Beispiel etwas konkreter werden:

Insert 7 Beispiel : Wasser  

„Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss.“ 

(Heraklit)

Wasser ist nicht nur eine alte mythische oder naturphilosophische Elementarität, es ist auch einer der Schauplätze geworden, auf denen die Positiv- wie Negativfolgen technischer Umarbeitung des Erdraumes manifest geworden ist. 

Die Elemente Wasser und Erde hatten bis zur Beginn der Neuzeit in Naturphilosophie, Wissenschaft und Technik eine hochbesetzte Bedeutung. Mit der Verwissenschaftlichung der Elemente zu profanen Stoffen zum Zwecke technischer Naturbeherrschung (und die damit verbundene Auftrennung von Subjekt und Objekt) scheinen Magie und Mythologie des Wassers und der Erde erledigt.

Den Bezug zum Wasser als einem Element des Lebens und der Kultur haben spätestens die industrialisierten Gesellschaften verloren.

Dennoch gelingt die neuzeitliche Trennung von Subjekt und Objekt gerade beim Wasser nicht. Der Mensch tritt dem Stoff Wasser niemals als souveränes Subjekt entgegen. Er ist immer Handelnder und Betroffener zugleich. Und die kulturelle Selbstbildung des Menschen bleibt unmittelbar mit dem Wasser verwoben: mitbestimmend in allen Überlegungen zur  Physiognomie einer Kultur: grundlegende Raum- und Zeitvorstellungen, Wertkomplexe, Kultur und Riten, Religion, Kunst und Wissenschaft bleibt das Wasser.

Wenn heute dem Wasser wieder seine zentrale Bedeutung zugestanden wird, so vor allem erst unter dem Aspekt der geostrategischen Dimension und jener einer Elementarressource. Eine solche Übersetzung von  Natur in zweckrationale Politik- und/oder Ökonomiestrategien basiert jedoch auf einem reduzierten Verständnis des Stoffes Wasser und ist Ausdruck der seit der Neuzeit praktizierten Trennung von Geist und Materie der Stoffe. 

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Das Auge des Wissens kann Schönheit nicht sehen. 

Mit dieser Trennung wird ein Verlust offensichtlich: Was  heute im Umgang mit Wasser grundlegend fehlt  ist eine Sprache des Wassers und deren Geschichte. Das Wasser kann wohl letztlich nur durch eine Methode angemessen verstanden werden, die jenseits positiven Wissens auf die Kraft der Imagination vertraut. Die Einbildungskraft ist möglicherweise eher in der Lage, eine Nähe zur Natur zu halten als jenes funktionalisierte Wissen, das im Dienst zweckrationaler Naturbeherrschung steht. 

Dennoch diffundieren technologische Prozesse weltweit und lassen alle Phänomene sich immer mehr angleichen. In der Folge entstehen immer mehr Erfahrungsdefizite und am Schluss spüren die Menschen ihren ursprünglichen Lebens-Raum nicht mehr.

Der Computer wird zum universalen Einsatzmittel, zum Wahrnehmungs- und Produktionsorgan für alle Lebensbereiche. Das bleibt – wie gesagt – nicht ohne Folgen: Die Qualität des Bleistiftes, der Tusche der Kohle kann zwar synthetisch auf dem Bildschrim simuliert werden, die haptische Qualität ist jedoch nicht mehr vorhanden.

Von unseren fünf Sinnen dominiert deren aggressivste (“wenn Blicke töten könnten…”), das Auge immer mehr.

Doch wie sagt doch Oiken: 

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Das Auge führt den Menschen in die Welt hinaus, das Ohr bringt die Welt dem Menschen zu sich heim. 

Damit wird etwas Fundamentales offenkundig:

Unsere elementarsten Wahrnehmungsorgane, unsere 5 Sinne, reagieren in unterschiedlichem Masse auf diese Veränderungsprozesse

Vorerst reagiert das Auge am raschesten und kulturell am erfolgreichsten. Hören, Tasten, Riechen, Schmecken folgen in etwa dieser Reihenfolge.

Was könnte diese unterschiedliche Modellierung der Sinnesorgane für die Ensemle-Nutzung bedeuten?

 Damit gelange ich bereits zu Fragen und kehre zurück zu Ihnen und zu Ihrer Baustelle:

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FRAGEN um ORTE               

Kehren wir nach diesem Ausflug zurück zu unserem Ausgangspunkt: Zum Wechselverhältnis zwischen Orten und Themen. Uns beschieden ist das Erforschen dieser Themen, dieser Geschichten, entstanden aus Umkreisungen.

Gerade ein Workshop wie unsere heutige und morgige Arbeit gibt Gelegenheit, diese Umlaufbahnen von Themen zu ergründen. Dieses Ergründen besteht vorerst aus nichts anderem denn aus stetem Fragen.

Nicht irgendwelche Fragen, massgebend bleibt, die richtigen Fragen zu stellen.

Doch der Weg dorthin kann mitunter recht dornenvoll sein. Was vermag einen dabei zu leiten?

Fragen stellen berührt zwei wichtige Aspekte:

So trivial es tönt: Fragen haben immer mit dem Gegenstand der Befragung zu tun. In unserem Fall: 

Was ist eigentlich ein Ort? Was sind die wesentlichen Zeichen dieses Ortes?

Was macht das Wesen eines Ortes aus?  Wenn sie beispielsweise hier zum Fenster  hinausschauen und sich fragen: wo ist eigentlich der Ursprung dieses Ortes – liegt er oben in den Steinbrüchen, in den Wasserquellen, in der Ebene des Tales?

Daraus entsteht ein Wechselspiel zwischen Fragen und Beobachten und Fragen. In der genauen Beobachtung der konkreten Dinge liegt ein erster Schlüssel, um zu den richtigen Fragen zu gelangen. 

Dazu gesellt sich ein anderer, wesentlicher Aspekt.

Dieser hat mit dem Fragenden selbst zu tun:

Wo ist seine höchste Energie des Fragens?

Wo ist jener Ort des Fragens, wo er sich selbst am nächsten ist? Welches sind die Fragen, die einen selbst zutiefst interessieren, die einen im Innersten bewegen?

Der tiefere Sinn des Fragens liegt ja nicht in der Anhäufung einer Menge von Daten, nicht in der Summe wiedergegebener Allgemeinplätze. Wesentlich ist vielmehr das stete Ringen um den Gegenstand des Fragens und das ist immer auch ein Ringen mit und um sich selbst.

Findet man nicht den Weg zu seinen eigenen Fragen, den Bezug zu sich selber, so findet man auch nicht den Weg zu den Dingen.

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Meisterschaft hat nicht mit der Beherrschung von Regeln zu tun, sondern mit dem Sich-Hineinlegen in die Dinge – und nicht zuletzt auch in sich selber.

 In diesem Sinne ist ein solcher Workshop eine ideale Übunsganlage,  mit sich einen Ort zum umkreisen und zu seinem thematischen Kern vorzustossen. 

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Behandle das, was du betrachtest, nicht als Objekt für deinen Verstand.

 

SAAL

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LASA

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LAAS

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Das Denken des Menschen leert sich in den Höhen der Berge. In der Leere entfaltet sich ein Raum, in dem wieder zu denken ist. Es ist ein Denken, das erinnert und wahrnimmt, wovon seit der Schwelle zur Neuzeit systematisch abgesehen wurde: von der konkret stofflichen Materie. Sie ist in der Abstraktion aufgegangen.

Helga Peskoller, Bergdenken