2014 ARTE E SAN GOTTARDO

REFERAT SEDRUN 30. August 2014

 

Liebe Veranstalter (lieber Arthur), liebe Kollegen, werte Gäste

Ich möchte mich herzlich bedanken, dass Sie mir Gelegenheit geben, anlässlich der Eröffnung der Ausstellung ART E SAN GOTTARDO einige Gedanken mit auf den Weg zu geben.

1 “Zuerst Wertschätzung dann Wertschöpfung”

Ihre Ausstellung haben Sie in einem Zeitungsartikel vom 10. Juni 2014 unter das  Motto gestellt : “Zuerst Wertschätzung dann Wertschöpfung”. Dieses Motto soll, so denke ich, auch als Antwort auf die Frage nach dem, was in der Diskussion rund um San Gottardo wesentlich sein soll oder sollte, verstanden werden. 

Diese Ihre Priorisierung unterstreicht einen Aspekt, der in einer auf Tempo und Ökonomisierung getrimmten Gesellschaft reichlich anachronistisch tönt.

Und er ist es auch. So absurd es tönen mag: Wertschöpfung ist zwar ein Büchsenöffnerbegriff, aber er kommt immer an, den er ist gesellschaftlicher Mainstream, auch wenn alle insgeheim wissen, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. 

Wertschätzung dagegen ist etwas für den Feierabend (welcher seinerseits in seiner Feierlichkeit zusehends schwindet). Wertschätzung ist nur zum Preis der Ressource Zeit zu haben.

Das ist deshalb so, weil Wertschätzung ein sozialer Prozess ist, der sich erst über die Zeit erschliesst und nur langsam wirksam werden kann. Er braucht Geduld, muss Rückschläge einstecken und will immer auch wieder träumen. Doch gerade um diese Prozesse will sich heute niemand mehr kümmern, sie dauern zulange, sie sind nicht ökonomisierbar – und gerade deshalb beginnen Gesellschaften, auseinanderzubrechen. Das nimmt man offenbar gelassen, denn die Folgekosten können ja ökonomisiert werden und notfalls kann der Staat die Geldmaschinerie anwerfen, was die steigende Wertlosigkeit nur noch unterstreicht.

Nun denn:

Ich soll Ihnen und Ihrer Ausstellung San Gottardo einige Gedanken mit auf den Weg geben. Doch was kann das sein, hier am Vorabend, an dem der pilgernde Bischof von Hildesheim dem Weisen aus dem Morgenland Platz machen muss, am Vorabend, an dem San Gottardo wieder zurückbuchstabiert wird zu slash/St. Gotthard um schliesslich und endgültig San Orascom zu weichen?

Nun denn, erwarten Sie von mir dennoch keine Polemik rund um die politische Ideologisierung einer Landschaft, die für viele immer noch einen elektrisierenden Namen hat und andere – da sind es wohl schon weniger – einen grossen blühenden Wirtschafts- und Lebensraum sehen. 

Das Legitimationsvokabular administrativ geprägter Reizwörter wie “Vernetzung”, “Valorisierung”, “Strukturaufbau”, “Potenzial”, “Wertschöpfung”, “leistungsfähige regionale Strukturen” und was des sprachlichen Missbrauches noch mehr ist, dient ja in erster Linie dazu, Subventionstöpfe zu füllen und diese Beute dann auch zu legitmieren.

Keine Polemik also, auch wenn man sich diese kaum verkneiffen kann, wenn man sich die neue Markendefiniton zu slash/st.gotthard liest. Ich zitiere:

“ Unser Ursprung ist sagenumwoben. Wir ruhen in uns. Wir verbinden Kulturwelten. Und sind weltverbunden. Wir bewegen Geist, Körper und Seele. Wir sind in Bewegung. Wir erschaffen aus unserem Ursprung heraus Erlebniswelten in nächster Umgebung. Wir entfesseln und bewegen Sinnen und Verstand. Wir erschliessen und verbinden Kulturwelten”

 Ich zitiere weiter:

 “Unsere Persönlichkeit verkörpert die Werte, die unserer Marke zugeordnet sind: slash/st.gotthard. Ursprünglich.Vernetzt. Bewegend. “

 Zitatende.

Wie wahr und wie verlogen zugleich. 

Warum ? 

Lassen Sie mich das als Einschub kurz skizzieren: Marken entstanden als Ersatz für den menschlichen Produzenten von Waren und Dienstleistungen, die mittlerweile meist in weiter Ferne ausgedacht und angeliefert werden (z.B. in einem Architekturbüro in Kula Lumpur). Das Unternehmen will vermeiden, dass wir an eine Fabrik denken, in der das Joghurt vom Fliessband kommt. Statt uns also von der Fabrik zu erzählen, tischt man uns das Märchen auf, Elfen hätten die Erdbeeren mit viel Liebe in einer Waldlichtung in die von glücklichen Kühen gemolkene Milch gelegt.

So etwas nennt man Markenmythos. Er wird nicht erfunden, um die Wahrheit zu verbereiten, sondern um sie zu ersetzen.

Gottseidank kann man den Konsumenten (welche früher Menschen waren) nicht mehr mit Geschichten- erzählen hinters Licht führen. Sie sind immer weniger von den k.o.-Tropfen abhängig, die ihnen die traditionellen Medien und der Mainstream ins Hirn schütten wollen und beginnen, selber Geschichten zu erzählen, die mit ihnen und ihrer Umgebung wirklich zu tun haben.

In diesem Zusammenhang deshalb einen herzlichen Gruss an ein Tal, das etwas weiter unten liegt und einen seiner Gestalter, Gion A. Caminada. Was dort geschieht ist kein Beispiel für Markenpflege sondern für Authentizität.

Vielleicht ist das bereits ein erster Gedanke zur “Zukunft des San Gottardo”.

Nun denn:

Sie haben mich als Künstler und Soziologen eingeladen und so lassen Sie mich denn auch diesen beiden Perspektiven Tribut zu zollen.

Vorab zur soziologischen Betrachtung.

2 San Gottardo als Katalog

Die Identität der Schweiz ist stark in ihrem Raumbild verankert. Die topografische Struktur der Landschaft war weit ins 20. Jt. hinein prägend für das Selbstverständnis der Bewohner.

Täler und Berge waren in sprachlichen Gedächtnissen detailliert konserviert. Innerhalb dieses vielfältig verästelten Inventars verkörperte der Gotthard eine Art Zentrum. Dieses Hochplateau symbolisierte die Idee der Einheit, die sich vielgestaltig in die Täler und Flüsse ausbreitete.

Neben der Bedeutung für die Schweiz stellte dieses Territorium in den vergangenen Jahrhunderten auch für Nachbarländer eine Projektionsfläche für Ideale dar: eine Art bukolische Idylle, ein Arkadien inmitten eines anbrechenden Industriezeitalters.

Mittlerweile sind diese Ideale in Vitrinen längst zur Schau gestellt, die Schrecken und Unberechenbarkeiten des Gebirges gebannt. Nachdem die letzten Gipfel-Erlebnisse kartografiert, das Erhabene in Sonderheften vorliegt und selbst das Marginale von einem Heer von Heimwerkern bearbeitet wird, ist der Gotthard längst Anthologie geworden.

Mit der endgültigen Bezwingung und Musealisierung hat sich aber auch die Aura der einst beschworenen mythischen Hochebene verflüchtigt. Exotischere Landschaften sind an ihre Stelle getreten: der Khaiber-Pass, Nepal, Tibet, Cyber-World.

Heute erschöpft sich jahrhundertealte Geschichte in Episoden und fernab von den realen Erfahrungen der Gegenwart. Der Mythos "Gotthard" ist zwar noch reich umwoben, befrachtet durch Geschichte, Kunst und Technik. Als Souvenir, als Zitate hinter Vitrinen sinkt er jedoch unter die Schwelle aktueller Bedeutsamkeit zurück. 

Der Mythos erhält keinen Kredit mehr. Wir haben längst Maschinen, die uns unsere Erinnerungsarbeit abnehmen und uns so die Gegenwart von der Bürde der Erinnerung befreien. Mittlerweile ist uns selbst die erzählerische Ordnung abhanden gekommen und die Welt wird nur noch aus der Gegenwart heraus interpretiert.

Braucht es den Gotthard noch?

Sawiris braucht den Gotthard nicht, er braucht nur die die juristischen Wasserträger und die Subventionsmillionen aus den politischen Zentralen.

Die NEAT braucht den Gotthard nicht, sie braucht nur leistungsfähige Zurbinger im Norden und im Süden.

Die Autofahrer brauchen den Gotthard nicht, sie brauchen nur möglichst staufreie Röhren.

Das Militär braucht den Gotthard nicht, die Armeeführung hat den Reduitgedanken bereits 1945 begraben, deren Verdauung in der Bevölkerung bedurfte allerdings dann noch drei Generationen. 

Braucht es den Gotthard noch? Name und Raum waren bedeutsam in einer bestimmten Epoche gesellschaftlicher, politischer und technologischer Entwicklung, konkret zwischen1830 und 1980 - allenfalls 1989, sozusagen als geostrategisches Faustpfand des Wiener Kongress von 1815 sowie als Symbol des neuen Bundesstaates im Kontrast zur beschaulichen Rütli-Wiese und deren bäuerlichen Vergangenheit. 

Doch mit der vollständigen Urbanisierung und Autobahnisierung hat sich die Schweiz und ihr Raumbild in den letzten Jahrzehnten längst erodiert. Mythische Orte sind verschwunden und sogenannte Metropolitanregionen und alpine Brachen bilden das neue und legitime Vokabular.

Ohne Folgen bleibt das nicht. Wo immer die Poesie eines Mythos nur noch als Biografie von Fakten, als Sitcom verstanden wird, entweicht dessen ursprüngliche, lebensspannende Bedeutung und er beginnt ohne grosses Aufheben abzusterben, wird leise und unsichtbar. So verkümmern lebendige Bilder zu bedeutungslosen Fakten, zu Zitaten aus ferner, fremdgewordener Zeit. 

In dieser Situation ist es nicht schwierig, aufzuzeigen, dass der Mythos - jetzt verstanden als Historie oder als Wissenschaft - eigentlich absurd ist. Mit dem Einzug des Säkularen entflieht das Hintergründige - aus Tempeln werden Museen. Dies ist einer der wohl charakteristischsten Züge westlicher Zivilisationsgeschichte. 

Das Bezwingen der Natur, die Aufklärung verschlungenster Bedeutungen - und immer unter dem Imperativ radikaler Restlosigkeit und Verpflichtung zum Nullrisiko - ist längst Programm.

Darüber erschöpft sich das Geheimnis des Territoriums: die katalogische Universalität hat alles erschlossen - und verdaut, einem grossen Magen gleich, der sich nie überfressen kann und dem nichts zu entgehen scheint. Die Selfies haben die letzten Geheimnisse eingeholt. 

3 Braucht es den Gotthard noch?

Braucht es den Gotthard noch?

Hat der Gotthard eine Zukunft?

Die Frage bleibt.

 Und Fragen stellen berührt zwei wichtige Aspekte:

So trivial es tönt: Fragen haben immer mit dem Gegenstand der Befragung zu tun. In unserem Fall: 

Was ist eigentlich ein Ort? Was sind die wesentlichen Zeichen dieses Ortes? Was macht das Wesen eines Ortes aus?  

Wenn sie beispielsweise hier zum Fenster hinausschauen, so können Sie sich fragen: wo ist eigentlich der Ursprung dieses Ortes – liegt er in dieser alten Kirche dort oder wie kommt ein solcher Ort überhaupt zu einer solchen Kirche oder liegt der Ursprung gar in der Varietät dieser verschiedenartigen Dächer? 

Daraus entsteht ein Wechselspiel zwischen Fragen und Beobachten und Fragen. In der genauen Beobachtung der konkreten Dinge liegt ein erster Schlüssel, um zu den richtigen Fragen zu gelangen. 

Orte begegnen einen mit Namen, klangvoll vielversprechend (San Gottardo) oder nichtsssagend (Swiss Alpine Ressort), Orte erscheinen als räumliche Ausdehnungen, bisweilen mit markanten Zeichen durchsetzt. Orte funktionieren wie Orbiter: sie sind umgeben von Umlaufbahnen von Themen, die um ihren Ortskern kreisen. Jeder Ort kennt solche Umlaufbahnen von Themen. 

Darüberhinaus haben Orte aber auch einen Ursprung, generieren Geschichte und Geschichten. Ein solcher Kern umschliesst ganz verschiedenartige Teile; oft sind diese unmittelbar sichtbar, sind offenkundig, manifest. Ein Ort ist an einem bestimmten Übergang an einem Flusslauf entstanden oder an einer Quelle. Oder er liegt am Kreuzungspunkt von Verkehrswegen. Motive gibt es viele und die jeweiligen Ortsgeschichten belegen die Hintergründe.

Aber hinter all dem Sichtbaren, Erklärbaren bleibt immer auch etwas Unausge-sprochenes, etwas Unsichtbares, etwas Geheimnisvolles. Vielleicht ist es ein Klang, der in einem Namen mitschwingt, eine Assoziation und mithin öffnet sich ein Tor zu etwas ganz anderem. Mit konkreten Orten und deren Schwingungen ist nicht selten auch die Idee von Heimat verbunden oder Momente aus der Kindheit und letztlich sind es immer auch Geschichten, die diese Orte umkreisen.

Präzise Lokalisierung, örtliche Präsenz in früheren Kulturen waren ein massgebendes Prinzip. Menschen trafen sich an bestimmten Orten, zu bestimmten Ereignissen

Der Gang dorthin war bereits ein Ereignis, eine Linie, mit welcher Raum koordiniert wurde und seine Koordinaten erhielt. Raum war eine Einheit, die durch ein Ereignis, bzw. durch reale Präsenz Gestalt erhielt.

Erst der Ereignisort definiert den Raum, das Ereignis selbst zieht die Grenzen des Raumes. Der Raum ist ein Wirkungsfeld, ein Feld, von dem gesagt werden kann, dass es hier oder dass es dort ist. 

Orte gründen auf Geheimnissen, entstehen aus deren Umkreisungen. Ein exemplarisches Beispiel ist das lombardische Mediolanum, das heutige Milano – entstanden aus Umkreisungen um einen Mittelpunkt: einst keltisches Heiligtum, dann christliches, später noch Designerstrasse.  Damit verbunden ist immer auch eine entsprechende Interpretation von Lebensräumen, von Themen. Das ist heute noch im Stadtbild ablesbar.

Alle Orte haben wechselvolle Zeiten. Verblasst das Geheimnis eines Ortes oder ist es bisweilen nicht mehr aufzufinden, so entsteht ein Vakuum und dann ruft man nicht selten Marketing und Design auf den Plan, um dieses Loch wieder zu füllen. Oder die Politik. Prego – bitte schön. Damit aber sucht man Versatzstücke, beruft sich auf etwas Manifestes, inszeniert Zeitgeist, während das Geheimnis letztlich immer unaussprechlich bleibt. 

4 Vom Fluch der Vertrautheit

Und so sind wir denn ob all den Fragen bei meiner zweiten Perspektive angelangt, jener der Kunst. So wie der Gotthard mittlerweile zu den alpinen Brachen gehört, zählt auch die Kunst in unseren Tagen (sofern sie sich den nicht dem Kalifat des Investitionsgutes verschrieben hat), zu den gesellschaftlichen Brachen, zu jenen Wegen der Welterfassung, die vom gesellschaftlichen Mainstream nicht mehr autobahnmässig erschlossen sind.

Dennoch, so schreibt der russische Filmautor Andrej Tarkowskij in seinem Buch “Die versiegelte Zeit”:

" Die unbestreitbare Funktion der Kunst liegt für mich in der Idee des Erkennens, jener Form der Wirkung, die sich als Erschütterung, als Katharsis äussert. "

Auch Erkennen ist – genau wie Wertschätzung auch – ein Prozess, der sich nur über die Zeit erschliesst. Und Erkennen erfordert die Bereitschaft, den Vertrautheitsfirnis der Dinge anzukratzen, ihn zu lüften und nicht selten gar wegzureissen.

Lassen Sie mich das näher erläutern.

Betrachte ich James Turells Landkarte von Roden Carter, dem berühmten  erloschenen Vulkan in Arizona, so finde ich darin keine Namen, nur einige Zahlen, Linien, Kurven, Mäandern. Nur weit draussen, wo die Eisenbahn vorbeizieht, fallen ab und zu Namen: Borrow Pit, Coyote Spring — so spärlich, dass man sich nachgerade an sie klammert, sie immerzu liest und sich den Ort vorstellen möchte, der sich dahinter verbergen könnte — die Behausungen, Fenster mit einem freundlichen oder vielleicht auch mürrischen Gesicht... 

Betrachte ich dagegen die Karte irgend einer Schweizer Gegend so fällt mir ihre pralle Sprachlichkeit auf: eine Fülle von Worten, Namen, Orten, Bezeichnungen - Identitäten eines Territoriums. Kein Tal, kein Hügel, kein Grat, keine Bergspitze, nichts, das namenlos bliebe. Was sich zeigt, muss auch benannt werden.

Unter all diesen Bezeichnungen fällt der Name "Gotthard" besonders auf: sozusagen als gesamtnationales Symbol der Einheit von Tälern und Bergen, als Name der Namen, als Benennung des Akts der Benennung. Wir haben im ersten Teil schon davon gesprochen.

Eine Welt, geordnet in diese Superstrukturen der Benennung: geordnet in Bergführern, Museumsführern, Chroniken, Chats und Wikipedias. Doch was damit letztlich vorliegt, ist nichts anders als eine Versammlung von (sprachlichen) Gestikulationen, die mit ihrem Dasein prahlen. 

Und die Landschaft, der Berg selbst erscheint wie ein Film, auf dem die Tonspur - also die Sinnspur - abgeschaltet ist, so dass nichts anderes übrigbleibt als ein aufklärerischer Marktschrei dieses Tatsachengewimmels, durchdrungen von einem lächerlichen Anspruch auf Vorhandensein. 

Was sehen wir, wenn wir all diese Namen aufsuchen? 

Im masslosen Sich-Zeigen versammelt sich die Welt unserer Benennungen in sich selbst. Einsam und ruhelos sieht sich das Auge dieser Geschlossenheit gegenüber: die Landschaft zelebriert unerträglich sich selbst und ihre Fremdheit gibt ihr so unermesslich Vorsprung, dass keine menschliche Bemühung sie je wieder einholt. 

Als sprachliches Imitat ihrer selbst unterscheidet sich diese Welt in keiner Weise von ihrem Originalzustand, bis auf den bedeutenden Moment des Verschwindens, der sie in etwas unvergleichlich Anderes verwandelt. Bisweilen - kaum sichtbar zwar - werden manchmal feine Risse wahrnehmbar.

Dann springt unversehens der Vertrautheitsfirnis über den Dingen, und etwas zugleich Uraltes wie aber auch völlig Unbekanntes wird sichtbar. Dieser rundum haltlose Moment eines Sehens muss wohl auch der Ursprung der Kunst sein (und wohl auch der Angst).

In diesem Zustand gänzlichen Andersseins erweist sich dieses Territorium als trügerisch fremder Abgrund: was tausend Mal sichtbar und benannt wurde und was in der Tradition sprachlichen Sehens längst zu einer allen verbindlichen Daseinsgewohnheit erwachsen ist, verwandelt sich in etwas prähistorisch Fremdes:  Eine sinnlose und riesenhafte Neuigkeit, unter Schönheit kaum mehr benennbar, schon eher unter Ungeheuerlichkeit.

 5  Epilog

Und so schliesse ich mit einem Text aus meiner 1990 aufgeführten Szenografie Posmeda, hoch oben auf 2500 m - es war anfangs September, an einem Samstag wie jetzt. 

Es ging darin u.a. um einen Bericht über Ausgrabungen im Hochgebirge, um Entdeckungen und Vögel, die darüber kreisten. Ich erinnere mich an den Prolog zum IV. Akt, dem Adler gewidmet:

“Ganz wunderlich beginnt der Text des vierten Vogels:

" Und derweil ich döste, fast schlummernd schon — plötzlich ward ein Tappen laut, als ob einer leise pochte, pocht' an meine Tür.

"Nur ein Gast", sagt ich mir im Stillen, "klopft an meine Kammertür, einzig das, und weiter nichts." 

Und so beginnt die vierte Stunde, die Stunde des Adlers, den die Strahlen der Sonne nicht blenden können, der die heimischen Winde wieder zurückbringt,  den Nordwestwind, die Bise, den Föhn.

 Die Menschen vor Zeiten hatten diese Art, dem Wind die Stirn zu bieten: Sie wurden Sucher nach Strassen und freien Wassern, Erzwinger von Fährten gen Westen und gen Süden, durch die Schluchten und Tobel unter der Last der Jahre.

Als Fronvögte und abenteuerliche Legatare, die zu Eisenpreisen die hohen unbezwungenen Pässe verhandelten, und jene fernen Lager neuer Meere hoch am Himmel mit ihrem Mörser aus fahlem Stein unter sich begruben.

Und der Adler über den Pässen, hingenommen vom Schwung seines Fluges, hält Audienz im Schatten dieser Lager: "Wahrhaftig, ich träume inmitten dieser plattnasigen Götzen. Ich träume inmitten dieser Witterer von Bernstein und Diamanten, inmitten dieser grossen Durchspäher der Runzeln der Erde und Entzifferer der Zeichen im Kindesalter. Wie suchen sie doch in Graphit und Uran die goldene Mitternacht."

Und lautlos empfiehlt mein Gast sich wieder an der Kammertür. Von Ferne noch hör ich seine Stimme: "Rühre dich nicht, lasse den Wind reden. Das Zeitwort ist "Sehen", nicht "Weiterziehen." "

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!