2003 REFERAT MATURAFEIER

Kantonsschule Rychenberg Winterthur 05.09.2003

Liebe Maturi Sehr geehrte Eltern Geschätzte Lehrerschaft und Mitglieder der Behörden!

 Jede Ansprache weckt Erwartungen, schürt Neugier und so will ich an dieser Schwelle Ihres Übergangs meine Gedanken unter das Thema stellen:

Neugier auf sich selbst

Ich will Ihnen dieses Thema in 4 Abschnitten näherbringen.

I           Was passiert jetzt eigentlich?

Übergänge sind besondere Momente, stellen eine Marke dar in der persönlichen Landkarte, einen herausragenden Punkt in jeder Agenda. Im Moment eines solchen Moments verschränken sich auf geheimnisvolle Weise Vergangenes und Künftiges. Als Ausdruck der Emotion höherer Ordnung gehören notwendigerweise auch Ansprachen – ein Sich Einlassen auf Worte. Damit meine ich nicht die „Regelmässigkeit“ einer Aussage, sondern die Hinwendung zu „Ursprünglichkeit“, zu Worten, die nicht Bellhunde der Vernunft sein wollen, sondern zu einem leisen Zupfen an jenen Saiten werden, aus denen Bilder erklingen mögen.

II          Was ist eigentlich bisher geschehen?

Zum Wesen des Übergangs gehört der Rückblick. Sie haben das vorhin von den Maturandinnen und Maturanden vernommen.

Die Beschwörung des Vergangenen gehört immer auch zur Bewältigung dieses Momentes eines Überganges und seiner Hinwendung zur Zukunft.

Doch in dieser Beschwörung kann auch ein Ursprung von Trägheit liegen: In der Erinnerung droht die Vergangenheit nicht selten zum angenehmen Ort der Gewohnheiten, der liebgewonnen Gebräuche und Geschichten zu werden. Und dieser tröstende güldene Schein des Gewohnten schafft Sicherheiten. 

Er macht aber aus erlernten Umgangsformen und Meinungen auch Schablonen. 

Doch was soll die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen bringt und nicht auch Wege des Irregehens zu öffnen vermag? Wäre da nicht noch mehr ? Liegt die Welt denn jetzt wirklich als grosses offenes Buch zu Ihren Füssen, entziffert und geordnet ? Oder waren denn die Formeln eher nur Schutzschilder unserer eigenen Furchtsamkeit, unseres eigenen Verrates?

Was war der Zweck unseres Lehrens und Lernens, wenn er sich nur in Formeln erschöpfte und dabei unseren inneren DAIMON bannte – diesen Schutzbefohlenen der eigenen Träume und Sehnsüchte im Hort des Ungedachten?  

Es gibt im Leben Augenblicke, an denen solche Fragen unentbehrlich sind. Und dieser Anlass heute ist ein solcher Augen-Blick. Es ist hier und heute zu fragen, ob man auch anders denken kann, als man denkt – und anders wahrnehmen kann als man sieht, um dadurch weiter zu denken, Weiterzuschauen, Weiterzuleben.

Mit solchen Fragen ist das Bisherige im Licht des Künftigen zu sehen.

Und so komme ich zur zweiten Frage:

III         Was erwartet mich?

Zum Wesen des Übergangs gehört der Blick zu einem nächsten Horizont.

Einige von Euch – und besonders die Älteren unter Ihnen – kennen noch das Bild von den Stufen des Lebens. Es ist ein jahrhundertealtes Bild über die Entwicklungsstufen des einzelnen Menschen, genährt an Erfahrungen in einer Abfolge von Lebensgeschichten, ein Bild über Aufgaben und Sehnsüchte, Erwartungen und Glück.

In den letzten Jahrzehnten sind diese Bilder zunehmend verschwunden. Here and now und zwar sofort ist als Motto an deren Stelle getreten. Die Biografien der nach der Hochkonjunktur der 60er Jahre Geborenen verlaufen immer weniger treppenförmig ineinander, sie purzeln vielmehr durchs Alls. Die Generation der heute 25- bis 35-jährigen hat in ihrem noch kurzen Leben – zumindest ökonomisch – vielfach bereits mehr erreicht als ihre Väter und Vorväter in ihrem ganzen Leben. Und dies mit einer getragenen Selbstsicherheit, die jeden Philosophen zu Staub werden lässt. Meist währte es zwar nicht ewig.  Viele von ihnen sind wieder gefallen, sowohl in Ökonomie wie in ihren Horizonten. Und wieviele sind dann eingegangen im angepassten Räderwerk immer kleinerer, immer feiner gedrechselter, winziger Räder? Nach einem rasanten Aufschwung verschwanden sie alsbald am Meeresufer, weggespült als Gesichter in Sand gezeichnet.

Zwar gibt es nach wie vor zahllose Pfade, Brücken und Halbgötter, die einen stets durch den Fluss tragen wollen, von der Null-Leasingrate bis zum immer noch dynamischen Cash-Account-Team. Aber diese Teufelsbrücken lassen sich nur bauen um den Preis des sich selber Verpfänden und Verlierens. So beginnen Lebensgeschichten nicht erst in ihrer Hälfte, sondern schon in ihrem vorderen Viertel zu stocken.

Hellhörig geworden ob diesen Erscheinungen bleibt Ihnen die Frage erhalten: Wohin geht die Reise? Oder in den 4 Fragen Kants:

Was kann ich wissen?

Was soll ich wissen?

Was darf ich hoffen?

Was ist der Mensch?

Welche Horizonte vermag der Mensch heute zu entwerfen, wenn er sich reflektiert?

Heute verlassen Sie offiziell diese Schule. Was nehmen Sie mit auf den Weg, was haben Sie verstanden, mit welchem Wissen gehen Sie in Ihren nächsten Lebensabschnitt? Ich komme zum vierten Abschnitt und 

IV         Zum Abschluss: Eine kleine Wegzehrung

Niemand kann ihnen wirklich eine Brücke bauen, auf der sie über den Fluss des Lebens schreiten – ausser: Sie allein. Die Schule von gestern und die Universität von morgen können sie nicht lehren, was Wirklichkeit ist. Realität ist immer nur das, was Ihr Bewusstsein erschafft.

Jeder von Ihnen weiss recht wohl, dass er nur einmal und darin als wirkliches Unikat auf dieser Welt ist. Dergestalt sind wir den Schneeflocken verwandt – keine gleicht sich der andern, jede ist unverwechselbar. 

Dennoch bleiben die meisten furchtsam, verstecken sich unter Sitten und Meinungen und verbergen sich vor sich selbst wie ein schlechtes Gewissen.

Statt zu rechtfertigen, was Sie schon wissen, fordere ich Sie auf, Mut zu entwickeln und die Anstrengung auf sich zu nehmen, für Entwürfe, die ausloten, wie und wie weit es denn möglich ist, anders zu denken und zu handeln. Ich will Sie an dieser Stufe des Übergangs ermuntern, ihren eigenen Morgen zu entwerfen.

Wesentlich ist, dass jeder seine Kräfte vereinigt und nach seiner ureigensten Stelle lenkt, an diejenige, an der er sein höchstes Resultat bringen kann. Es ist diese Konzentration, die wesentlich ist.

Wie wird man was man ist ? Wo liegt jene Stelle, in der unsere eigentliche Kraft liegt - ich sage bewusst Kraft, nicht Macht (im Wissen liegt allenfalls Macht, nicht jedoch Kraft)?

Es ist der Mut zum eigenen Traum. Ich meine nicht blinder Wahn, ich meine nicht zuckersüsse Versuchung; ich meine: die tiefe eigene innere Sehnsucht, die die meisten von uns in ihrer Kindheit noch verspürt haben, bevor sie ihnen die Welt der Erwachsenen vernünftigerweise ausgeredet hat. 

Was morgen Wirkung und Tat ist, ist im Voraus Traum, Bild von einem Land, an dem man selber baut. 

So war Kolumbus auf seiner Fahrt: er sah nichts. Nur ein Traum führte ihn zu einem anderen Erdteil: seine Vorstellung von einem Land und sein unerschütterlicher Glaube an diese Vorstellung. Damit verbunden ist auch die Leidenschaft zur Grenz-Erfahrung, zu jener Neugier, die sich nicht aneignet, was sich schon ereignet hat, sondern sich vom Angeeigneten löst. 

Das Schöpferische, also die Konzentration auf sein eigenes höchstes Resultat, muss sich im Traum halten. 

Unterwegs in seiner eigenen Biografie ist nur die Kraft massgebend, mit der man diesen seinen Traum bewahren kann. 

Wer zu seinem eigenen Traum noch eine Brücke bauen kann, dem wünsche ich als Wegzehrung von der Schule, dass sich sein eigener Traum in seine Biografie verweben möge.

Nichts ist Ihnen mehr zugehörig als der eigene Traum. 

Diesen wieder zu erwecken und zu leben, das wünsche ich ihn Ihnen für Ihre Zukunft.