1999 VOM EIGENTLICHEN, DAS MICH AN MICHAILOWS BILDERN BEWEGT

Referat Collegium Helveticum ETH Sternwarte

 

Über Boris Michailows wurde in  letzter Zeit viel geschrieben, sein jüngstes Buch „Case History“ erregte Aufsehen. 

Was ist das Eigentliche an ihnen?

Warum sind seine Bilder aus der Ukraine so bevölkert und jene aus Zürich oder aus anderen westlichen Städten eher menschenleer ?

Was ist wesentlich in dieser Arbeit, in diesen Bildern? 

Ich denke an einen – ebenfalls aus Russland stammenden - Zeitgenossen Michailows 

„Und da ich nun nicht nur meine Aufgabe als Künstler, sondern vor allem als Mensch definieren möchte, muss ich mich hier auch der Frage nach dem Zustand zuwenden, in dem sich unsere Zivilisation heute befindet. Die Frage nach der persönlichen Verantwortung des Individuums gegenüber dem historischen Prozess, an dem es Anteil nimmt.“

Und weiter:

„Ich habe den Eindruck, dass in unserer Zeit eine historische Etappe zu Ende geht, die im Zeichen der „Grossinquisitoren“, Führern und „herausragenden Persönlichkeiten“ stand, besessen von der Idee, die Gesellschaft „gerechter“ zu gestalten und zielbewusster zu organisieren. Sie bemühten sich, das Bewusstsein der Massen zu lenken, es neuen ideologischen und sozialen Ideen zu verpflichten und im Namen des Glücks für eine Mehrheit des Volkes zur Erneuerung der Organisationsformen des Lebens aufzurufen.“ 

Sätze von Andrej Tarkowskij - vor 15 Jahren in seinem Schlusswort im Buch „Die versiegelte Zeit“.

Sätze, die mich begleiten, wenn ich die fotografischen Inszenierungen Michailows in „Case History“ durchgehe: sie zeigen mir die Dimensionen der Welt nach dem Abgang der Grossinquisitoren.

Am Ende sind die Helden vom Himmel gefallen und kehren zum Ursprung zurueck.




Das ist das Eigentliche, was mich bewegt durch diese Bilder, was mir hier als spezifische Thematik begegnet und was ich als Spur aufnehmen und verdichten will.

 

„ Ein Kranker nun

Der an Schlangengift krank ist;

Ein Gefangener nun,

der das härteste Los zog:

im eigenen Schachte

gebückt arbeitend,

in dich selber eingehöhlt,

dich selber angrabend,

unbehilflich,

steif,

ein Leichnam–,

von hundert Lasten übertürmt,

von dir überlastet,

ein Wissender!

Ein Selbsterkenner!

der weise Zarathustra!...“

so Nietzsche in den Dionysos-Dithyramben.

Michailow ist ein Beobachter des „Aus-dem-Rahmen-Fallens“; er setzt sich mit seinen fotografischen Arbeiten präzise mit einem bestimmten historischen Moment gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung in seinem – soll ich sagen: Vaterland ?! – auseinander.      

“In meiner Arbeit identifiziere ich mich mit der Zeit, mit dem Prozess, der in unserem Land abläuft“,  hält er in seiner „Unvollendeten Dissertation“ fest. Und: „Ich möchte sozusagen ständig die Zeit konservieren.“

 Aber er macht keine mitfühlsamen Zeit-Dokumente des Zerfalls eines Reiches, er inszeniert den zentralen Moment eines fundamentalen Übergangs.

Seine Bilder zeigen keine Tschunkies, keine sozial Randständigen im westlichen Sinne. Es sind nicht Aufnahmen von Obdachlosen, die Bilder thematisieren nicht das äussere soziale Elend. Es sind auch keine Schnappschüsse – es sind vielmehr Inszenierungen: Inszenierungen von Erosionsprozessen an einer gesellschaftlichen Schnittstelle: sie zeigen die Auflösung, die Mutation einer festen Orientierung, die Auflösung des Himmels. 

Im Gegensatz zu der heute vielfach praktizierten Art, Fotos zu machen, geht es in diesen Bildern nicht um Dokumente der Teilnahme, nicht um den gelungenen Schnappschuss, nicht um die Intimität des Augenblicks. Statt subjektivem Erleben steht Befragung im Zentrum, das Aufspüren der Reibungsfläche zwischen real Vorgefundenem und seiner dahinterliegenden Symbolik. Es geht um Sichtbarmachen, nicht um eine Dokumentation der Teilnahme.

Michailow inszeniert die Fallhoehe zwischen Himmel und Erde

Der Himmel verliert sich hinter Büschen, die Erde öffnet ihre Schlünde.

 Dabei wird nicht sinnentleerter Alltag dokumentiert, sondern ein fundamentaler Sinnbruch aufgerissen – ein Vorgang, den die westliche Gesellschaft im 16. Jahrundert zwar erstmals durchfuhr, dessen Brisanz uns heute aber kaum mehr bewusst ist. Daran liegt für mich der fundamentale Wert, das Eigentliche der Arbeit Michailows: dass er diesen epistemologischen Bruch inszeniert. 

Von Vorstellungswelten ist die Rede und zu thematisieren ist die Differenz zwischen geschlossenen und aufgebrochenen Weltbildern. 

Die Sowjetunion dominierte den Menschen durch eine für alle verbindliche Kollektivorientierung von „Oben“ her. Dieser verordnete Himmel zeigte sich stets geordnet. Er ermöglichte keine individuelle Sicht, nur ein Erleben und Handeln entlang vorgegebener Muster. 

Diese durchgeordnete Welt überliess nichts dem Zufall, alles war geregelt. Und was nicht geregelt war, existierte nicht. Alle zu konstatierenden Unzulänglichkeiten wurden als „Normal“ eingestuft.  „Das ist normal.“ – ein Lieblingssatz von Michailow. So entstand letztlich ein „Totalitätsgefühl“. Diese Welt war eine Konstruktion, die „von Oben“ verordnet war.

Zensurmassnahmen stabilisierten dies zusätzlich: Beschränkung der Bildersprache, Redeverbot waren die Konsequenzen. Und folgerichtig berichtete Michailow: „Jeder Mensch mit einer Kamera ist ein Spion“. Exemplarisch auch, dass Nacktheit tabu war. Das Ringen um Erkenntnis war nicht die Sache des Paradieses.

Diese Welt sah keine „Gefallenen“ vor. Die Angst vor dem „Gefallensein“ wurde durch die Beschwörung der Idee, der Utopie, des „Himmlischen“ immer wieder kompensiert. Dieses von „Oben“ diktierte Menschenbild schloss auch die Nichtbeachtung und Nicht-Achtung der Erde, des Irdischen ein.

Die Wende – oder genauer: der Fall – war in ihren Dimensionen dann weit mehr ist als der Zusammenbruch eines sozio-ökonomischen Systems: es war ein fundamentaler Orientierungswechsel, mit dem der Mensch konfrontiert war. Dieser Wechsel brachte mit sich, dass der Mensch sich in einer völlig veränderten Welt vorfand und mithin zu einer veränderten Erfahrung von sich selber gelangte. Die Welt erwies sich nicht mehr eine in Systemkategorien definierte logisch klare, sondern musste als eine individuell erst erfahren werden – und dies schmerzhaft, nachdem zuvor das Kollektiv alles umfassend strukturierte (und kontrollierte).

Damit ging die Sinnorientierung des Ganzen verloren und machte der Unendlichkeit des  nun zu entdeckenden Faktischen Platz. Und erst in der Vertreibung aus diesem himmlischen Paradies der umfassenden Ordnung wurde sich der Mensch seiner Nacktheit bewusst.  

Nun begann der zuvor vielfach besungene kommunale Körper zu zerfallen, Utopie wich lasterhafter Subjektivität.

 

Der Einzelne erfuhr sich jetzt einer Erdwirklichkeit gegenüber, die ihn in ihrer unendlichen Vielfalt überwältigte und auslöschte, ihn klein und unterlegen machte. Sein Horizont fasste nicht mehr die heroische Weite, keine leuchtenden Himmel. Der entgleiste kollektive Mensch fand sich in der Erniedrigung wieder. Ob ein Ersatzhimmel namens Konsum noch blass durchschimmerte oder gänzlich fehlte, war hier gar nicht mehr entscheidend.

 „Jetzt –

einsam mit dir,

zwiesam im eignen Wissen,

zwischen hundert Spiegeln

vor dir selber falsch,

zwischen hundert Erinnerungen

ungewiss,

an jeder Wunde müd,

an jedem Froste kalt,

in eignen Stricken gewürgt,

Selbstkenner!

Selbsthenker!“

Michailow zeigt die erste Station des Abstiegs in die Nigredo,  in die Schwärze menschlicher Existenz,  es ist ein Abstieg in die Hölle, wie sie ausgangs des Mittelalters auch Hieronymus Bosch angesichts des fallenden Himmels zeigte.

Die Menschen in diesen Inszenierungen sind ausgesetzt den dämonischen Mächten der Erde, sind auf der verzweifelten Flucht durch diese Welt und aus dieser Welt, entlassen aus dem Arbeiterparadies und irren nun in der dämonisch-bösen Fremde umher.

Die einzigen Quellen der Wahrheit waren bisher Programme, Erkenntnisse „von oben“. Die Kommunalwohnung war das Paradies des Neuen Menschen und nicht „die Strasse“, die Erkenntnis von unten. Auf einmal wird die Fallhöhe zwischen Himmel und Erde spürbar.

 Die Leiden des westlichen Menschen, der sich in den letzten Jahrhunderten immer mehr sich selbst überlassen sieht – und wovon Nietzsche schmerzlich berichtet –, scheint nun auch die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang erfasst. Eine geradezu kopernikanische Wende: Die geschlossene Weltkugel platzt auf und gibt in einer bestürzenden Dynamik eine unendliche Zahl von Welten in unausdenkbaren Entfernungen von Raum und Zeit frei. Die Welt ist nunmehr nicht mehr hierarchisch und wertend geordnet, sie ist auch nicht mehr „rein“, sie gilt es erst zu entdecken. 

Nun wird all das an Darstellung möglich, was zuvor dem Diktat der Programme geopfert werden musste: die Strasse und ihre Ungeordnetheit, die nicht mehr überwindbaren Gegensätze, Nacktheit. 

In diesem epistemologischen Bruch, in  diesem Moment der Vertreibung aus dem Paradies entsteht Erkenntnis: sei es – vorwärtsgewandt - als Beginn des Erforschens, sei es – rückwärtsgewandt – als Klage über den Verlust des Paradieses.

Die sowjetische Kultur zeigte sich stets affirmativ, kannte keine Negativität ausser das schlechthin Andere, das Negative an sich, sei es nun der Teufel oder der Klassenfeind.

Im Bruch mit der bisherigen allumfassenden und ausschliesslichen  Positivität kann und muss nun Negativität gegenübergestellt werden. 

„Jetzt –

Zwischen zwei Nichtse

Eingekrümmt,

ein Fragezeichen,

ein müdes Rätsel –

ein Rätsel für Raubvögel...“

Diese Negativität hat eine dramaturgische Funktion. Schon Hegel weist in seinen ästhetischen Schriften daraufhin: „Der Geist erfasst die Endlichkeit selber als das Negative seiner und erringt sich dadurch seine Unendlichkeit.“ 

 Und Rilke schreibt in den Duineser Elegien:

„So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt ? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‚unsichtbar‘ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.“

Dabei sind es nie einzelne Momente, die Michailow zeigt – jedem Bild folgt ein anderes und er zeigt damit nicht das Situative, sondern den Prozess auf. Dieses Prinzip ist ein genuin fotografisches. Die Gegenüberstellung ist ein Mittel der Enthüllung der unsichtbaren Geheimnisse der Alltagswirklichkeit und führt hinüber zu einer neuen Realität; sie will sichtbar machen. Das Zusammenfügen zu einem neuen Bild durch ikonografische und formale Wiederholung ist ein Prinzip, das bereits Ende der 40er Jahre von Alexey Brodovitch  und Robert Frank angewandt worden ist.

Ähnlich wie Frank in  den 50er Jahren entwirft Michailow eine „visuelle Studie der Zivilisation“ (Frank) – und dies klar und endgültig. Und ich meine, dass ihm ein ähnlich dichtes Bild seiner unmittelbaren Umgebung gelingt wie Frank mit den „The Americans“ – wenn auch mit teilweise gänzlich andern Stilmitteln.

 (Diese bedeutende Arbeit Franks wird übrigens ab Donnerstag, 3. Juni in der Fotogalerie Scalo an der Weinbergstrasse in Zürich zu sehen sein, am selben Ort, wo sie gegenwärtig noch Aufnahmen von Michailow begegnen können.)

 In solchen Arbeiten wird ein Aspekt künstlerischer Verantwortung deutlich, eine Haltung, die sich darin äussert, in seiner Arbeit einen präzisen Moment eigener Existenz festzuhalten. Darin ist Michailow seinem eingangs zitierten Zeitgenossen Tarkowskij verwandt:

„Die unbestreitbare Funktion der Kunst liegt für mich in der Idee des Erkennens, jener Form der Wirkung, die sich als Erschütterung, als Katharsis äussert.“ 

 Ich danke Ihnen für Ihr Interesse.

Publiziert in: Gerd Folkers, Helga Nowotny und Martina Weiss (Hg.): Sternwarten-Buch 2. Jahrbuch Collegium Helveticum. ETH Zürich, Zürich: Haffmans Sachbuch Verlag, 1999