1988 HANS ERNI – EIN KÜNSTLER AUSSERHALB DER KUNST

Monografie im Auftrag des ABC-Verlages.

Text durch Hans Erni nach langen Diskussionen abgelehnt. Die Monografie im ABC-Verlag erschien dann 1993

„Viele versuchen, sich durch das Bild an etwas zu klammern. Da ist kein Wunsch mehr nach einem Bild, das aufgrund einer inneren Disziplin entsteht. Schwäche verleitet dazu, sich an etwas Glitschigem festklammern zu wollen, als wünschte man, die Madonna oder ein UFO zu sehen. Ein oberflächliches, folkloristisches Bild lässt sie wähnen, die Madonna oder in UFO zu sehen, jedenfalls nichts Vertieftes. Man darf sich nicht der anachronistischen Form hingeben, denn sobald ein Bild anachronistisch ist und du die Vergangenheit oder die Zukunft auf eine bestimmte illusorische Weise daraus zu lesen vermeinst, gerätst du auf einen gefährlichen Weg. Dann zerbrechen die Koordinaten des Raumes, so dass die werke sich weder begegnen noch kreuzen können.“ Enzo Cucchi in: Ein Gespräch/Una discussione, Parkett-Verlag Zürich 1986 (1) I Die Auseinandersetzung, die Kritik mit Werken der Kunst tut sich allemal schwer mit ihrem Gegenstand. Nicht nur fehlt ihre die stete Tradition des Bemühens, sondern auch die klare Übereinkunft über die Qualität ihres Tuns.

So bleibt Kritik meist hinter dem schöpferischen Anspruch der werke zurück, bleibt konventionell oder gebärdet sich ideologisch. Selten erreicht sie jenes Niveau, welches etwa Moravia oder Sartre an Tarkowskis Film „Iwans Kindeheit“ erreichten: nämlich schöpferische Auseinandersetzung. Gerade in bezug auf das Werk von Hans Erni sind die Meinungen – was noch nicht gleichzusetzen ist mit: Kritik – in geradezu exemplarischer weise polarisiert. Hans-Jörg Heusser schreibt im Buch „Kunst in der Schweiz 1890 – 1980“: „Erni gehörte in den dreissiger Jahren zur Avantgarde, hat sich dann aber in der Nachkriegszeit vom Avantgardismus und dessen Publikum abgewandt, um breitere Schichten zu gewinnen.

Mit durchschlagendem Erfolg – er ist heute der bei weitem populärste Schweizer Künstler der Gegenwart. Seine Popularität dürfte zum Teil darauf beruhen, dass seine technisch brillianten Werken inhaltlich restlos erklärbar sind. es handelt sich meist um mühelos aufschlüsselbare Allegorien; der Künstler liefert im übrigen die Deutungen breitwillig mit. Erni schaffte es, im Gegensatz zu Karl Geiser, tatsächlich aus dem elitären Kunstpublikum auszubrechen und breite Bevölkerungsschichten anzusprechen; allerdings um den Preis der Trivialität, den Geiser nicht zu bezahlen bereit war. Im Gegensatz zu den Werken Geisers und erst recht zu den Werken der prononcierten Avantgardekunst setzen seine Werke keine Bildung voraus, auch wenn sie mit Bildungsgut prunken. Er schafft eine Kunst, die man verstehen kann, ohne etwas von Kunst zu verstehen.“ (2) Ebenso charakteristisch für den Geist der Auseinandersetzung – bei anderer Optik – John Matheson: „ In seinem gesamten Werk geht es Erni um die Darstellung von Beziehungen gegenständlicher, realer Dinge zu optisch-geometrischen, mathematischen Formeln. Kein einfache Darstellung entsteht, sondern eine Imago der begrifflichen Interpretation, der erwünschten und der vorbildlichen Wirklichkeit, sei sie nun marxistisch oder humanistisch-evolutionär. Das Bild, die Zeichnung, das Plakat wird zum Bedeutungsträger. Von da aus erfolgt die Auslegung, von da aus kann der Sinn Gehalt des Werkes nachvollzogen werden. Unsere Wahrnehmung ergibt erst in der Verarbeitung durch die Sinne und durch den Geist und durch die Reflexion die Interpretation des Gesehenen. Die Illusion wird zugunsten einer zukünftigen Realität aufgehoben, das Gewicht von Aussen nach Innen gelegt, die Subjektivität wird zur Objektivität hin verlagert, Farbe und Form, Mensch und Ding, Zeit und Raum werden gleichwertig. Es geht Erni um die Objekthaftigkeit: in Verbindung mit dem Menschen, der sich der Natur anpasst, sie nicht untertänig macht, wird der technoide und technische Gegenstand zum Emblem der modernen Zivilisation. Es entsteht ein Bekenntnis zur moderne Welt der Maschinen und der werktätigen. All dies liegt begründet in einem realistischen Idealismus, in der Hoffnung auf eine bessere Welt.“ (3)

Erschöpft sich damit die Substanz der Auseinandersetzung zu Person und Werk von Hans Erni? Oder wäre etwas beizufügen. Bedenken sind am Platz: Sind die Positionen in bezug auf das Werk des offensichtlich populärsten Schweizer Künstlers nicht schon derart abgesteckt, dass man sich nur noch auf die eine oder die andere Position schlagen kann, rsp. dem einen oder dem andern Lager zugerechnet wird: zu jenem der Bewunderer oder zu jenem der Verächter ? Lässt sich zu Hans Erni noch etwas sagen ? Und wenn ja, wo lägen dann mögliche Ansatzpunkte ? Konrad Farner schreibt 1945 – noch aus der Zeit der inneren und äusseren Nähe heraus: „Erni hat zudem, wie kein andere Schweizer Künstler, all die herrschenden Kunstrichtungen gewissermassen selbst ausprobiert, er war der Pariser Malschule zugetan, der Abstrakten Malerei, er machte die Flucht aus der Gegenwart in die Vergangenheit mit – die Flucht der guten Bürger – und er versucht heute seine Darstellungsart so zu gestalten, dass sie alle angeht, von allen verstanden wird und alle aufruft. (Ganz im Gegensatz zu gewissen Malern, die sich in Worten revolutionär gebärden, in der Tat aber in einem elfenbeinernen Turme hausen.) Das ist das Interessante an Hans Ernis Schaffen, dass es möglich ist, anhand seiner Werke die Situation der heutigen Kunst ein einigermassen zu umschreiben. Er ist nicht von vorneherein zu seinen jetzigen Ergebnissen gelangt, er ist aber auch nicht bei unfruchtbaren Gegebenheiten stehen geblieben, er ist nicht unter die Dogmatiker und Theoretiker gegangen, aber auch nicht Tagespolitiker oder blosser Mitläufer geworden. Unbeirrt von Ateliergeschwätz und Kunsttheorien ist er immer weitergeschritten, und es ist daher von Interesse, die Bahn zu verfolgen, die er durchlaufen hat.“ (4)

Wo steht dieser Künstler und sein Werk heute – 40 Jahre nach dieser freundschaftlichen Begleitung und 20 Jahre nach deren Absage? Was vermag heute an Hans Erni zu interessieren? Aufschlussreich für eine Antwort scheint mir die Konkretisierung der eingangs festgestellten Polarisierung der Meinungen zu Hans Erni, mithin ihr Wandel: Während das „Bürgertum“ Ernis „linke Zeit“ und seine spezifischen Anliegen von damals nicht mehr übel nimmt und der Vergessenheit oder der Legende anheimgegeben hat und ihn jetzt praktisch vorbehaltlos trägt, haben Ernis Begleiter (und Kritiker) von damals, hat die Kunstszene ihn und sein Werk nahezu einem Boykott unterstellt. Muss dennoch Stellung bezogen werden, tönt es martialisch „Abrechnung mit Hans Erni“ (5) oder kurz und unverbindlich wie bei Jean-Christophe Ammann im Vorwort „Zeitgenossen sehen Hans Erni“: „Der geellschaftspolitische Ansatzpunkt Ernis, im Thematischen wie auch im Formalen, von einer breiten Bevölkerungsschicht verstanden zu werden, verdient Beachtung. Kriterien wie Autonomie und Originalität als Alternative zur bestehenden Kunstszene werden zugunsten de Kommunzierbarkeit in den Hintergrund gestellt. Der verpönte Begriff des „Illustrativen“ wird gezielt, mit der Absicht der Aufklärung und Sichtbarmachung durch die bildhafte Sprache eingesetzt. Mit anderen Worten: Erni versucht nicht, sich zuerst mit einer Kunstform durchzusetzen und anschliessend ihren Inhalt zu vermitteln, sondern er versucht einen Inhalt, für den er sich engagiert hat, möglichst unmittelbar mitzuteilen, dennoch in einer Art, dass die Querverbindungen für eine Situierung des Anliegens im übergeordneten Rahmen ersichtlich werden. Das Verständnis für das Werk Hans Ernis steht unter dem unglücklichen Vorzeichen eines ständigen Vergleichs mit einer Kunst, deren wesentliches Merkmal, ihrer Gegebenheit entsprechend, darin besteht, sich selbst stets in Frage zu stellen. Erni geht dagegen von einer ganz anderen Voraussetzung aus. Im ständigen Dialog mit dem „Mann auf der Strasse“ und damit verbunden mit den offensichtlichen Problemen der Zeit – formt sich eine Sprache als ein „Red-und-Antwort-Stehen“, was dem Betrachter die erlebnishafte Vorstellung von Sinn und Zwecke einer gemeinsamen Sache gibt. „ (6)

Mithin stellt sich hier die Ausgangsfrage einer Auseinandersetzung mit Werk und Wirkung von Hans Erni: Worin gründet dieser Gegensatz zwischen grosser Popularität in der Bevölkerung und deren Repräsentanten einerseits und der auffallenden Distanz von seiten der Künstler und der Kunstkritiker andererseits? Unbestritten ist: Welcher Schweizer Künstler kann sich einer derartigen Verbreitung seines Werkes erfreuen, zu Lebzeiten sich ein eigenes Museum errichten, eine eigne Stiftung gründen, die das geschaffene Werk trägt und unzählige Aufträge der öffentlichen Hand sein eigen nennen? Unbestritten ist auch, dass niemand ihm sein grosses handwerkliches Können abspricht, dass kaum ein Künstler und sein Werk in diesem Land mit so viel publizistischer Begleitung und öffentlicher (und sogar staatspolitischer) Reputation bedacht worden ist. Wie lässt sich dann in Anbetracht dessen diese Demarkationslinie erklären, die von einem grossen Teil der Kunstszene um das Werk (und die Person) Hans Erni herum gezogen wird?

Liegt der Grund vielleicht in einem gebrochenen Verhältnis seitens der Künstler zu Popularität und Erfolg? Oder hat die Frage zu tun mit der Diskrepanz zwischen dem „Geschmack der Mehrheiten“ und dem hybriden Kanon der Kunstszene ? Fragen drängen sich auf und sie scheinen mir Grund genug, sich mit Anliegen und Werk von Hans Erni auch heute noch auseinanderzusetzen.

Eine kritische Auseinandersetzung kommt allerdings nicht darum herum, zuerst jene Positionen auszustecken, die für eine Beurteilung ist.

Die vorliegende Fragestellung erfordert die Klärung zweier Themenbereiche, die beide die Wechselwirkung zwischen Künstler und Publikum, die Frage der für sie je aktuellen Themen, die Wahl von „Sujets“ betreffen. Der erste Bereich ist soziologischer Natur: Die Frage des Erfolgs eines Themas im allgemeinen und eines Bildes im besonderen hängt hauptsächlich davon ab, inwieweit der Maler und sein Publikum in der Frage der Bedeutung eines Sujets übereinstimmen. Ein Thema ergibt sich, wenn ein Künstler etwas Bestimmtes auszudrücken sucht, etwas, das er aus irgend einem bestimmten Grund für bedeutsam hält, etwas, dem er besondere Beachtung zukommen lassen will. (Die hierfür notwendigen Entstehungsgründe, insbesondere der Umstand, dass es sich dabei nicht ausschliesslich um bewusst wahrgenommene Prozesse handelt, bilden Bestandteil des zweiten Themenbereiches.) Das Thema selbst ist ohne Rückbindung an die umgehende Kultur nicht rezipierbar: Geschlossene autarke Kulturen vermitteln durch ihre Tradition den Kanon der relevanten Themen. Der Künstler ist darin ein Ausführender, das Problem einer subjektiven Wahl stellt sich ihm unter diesen Gegebenheiten gar nicht. Erst wenn der Konsens darüber schwindet, welche Werte und Themen in einer Kultur zentral sind, tsaucht für den Künstler die Problematik der persönlichen Wahl von Themen auf, die Notwendigkeit eines persönlichen Bekenntnisses nicht nur zu Motiven, sondern auch zu deren formalen Behandlung.

Dies ist nicht nur ein zentraler Ausgangspunkt der Freiheit von Kunst und Künstler, sondern auch der Schwierigkeit des Publikums, den Zugang zu ebensolcher Kunst zu finden: die Quellen des Zugangs zur Kunst und deren spezifischen Themen werden differenzierter, sind nicht mehr voraussetzbar. John Berger konstatiert hierzu – bewusst schematisierende, um ein komplexes Thema ansatzweise zu entwirren: „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Maler, grob gesagt, zwei Möglichkeiten, sich der Aufgabe zu stellen, sein Thema zu suchen und damit für die Gesellschaft die Wahl zu treffen. Entweder identifizierte er sich mit dem Volk und liess sich von dessen Lebensbedingungen die Themen diktieren, oder er musste seine Sujets in sich selbst als dem künstlerischen Subjekt finden.“ (7) Die letzteren strebten danach, die Methoden des Sehens – ihre eigene Methode – zum Thema ihrer Bilder zu machen (vgl. hierzu die zahlreichen Beispiele von Paul Cézanne bis zu Markus Raetz). Für die ersteren hält John Berger fest: „Die, die sich für die erste Lösung entschieden, taten dies meist unter dem furchtbaren Druck ihrer Einsamkeit. Weil sie „dazugehören“ wollten, entwickelten sie ein soziales Bewusstsein. Und nachdem sie ein soziales Bewusstsein entwickelt hatten, wollten sie die Gesellschaft verändern. Nur in diesem Sinn kann man sie als politische Künstler bezeichnen und behaupten, dass sie sich bei der Wahl ihrer Themen an den Normen einer künftigen Gesellschaft orientierten.“ (8)

Ungeachtet einer notwendigen Konkretisierung der hier referierten Aufgliederung von Themen und Künstlern führt dieser Aspekt hin zum zweiten Themenkomplex, zur Frage nach der genese von Sujets im Wechselspiel zwischen innerer Betroffenheit des Künstlers und den Werten der ihn umgebenden Kultur. Zentrale Werte einer jeden Kultur sind immer auch symbolische Werte, Werte, die ihrem Wesen nach nie ausschliesslich nur bewusst, somit auch nie im rationalen Denken allein auflösbar sind. Immer sind sie auch getragen von unbewussten Vorstellungen, von Symbolen, von Archetypen. Doch was ist ein Archteyp? Was umreisst dieser geflügelte, so bei jeder Gelegenheit leicht von den Lippen fliessende Begriff? Archetypen sind Urbilder, vielschichtige Ausdrucks- und Anschauungsmöglichkeiten. Es sind innere Bilder, deren Kraft ohne das Unbewusste des Menschen und der Kultur, deren Bedeutung ohne den „Zeitgeist“ nicht verständlich ist. Sie sind die eigentlichen Quellen der Kraft eines Bildes, eines künstlerischen Werkes: archtetypisch getragene Bilder prägen den künstlerischen Eindruck, den ein Werk macht, prägen die Stimmung, die es auslöst ebenso wie die Assoziationen, die sich mit dieser Stimmung verbinden.

Die Aufgabe des schöpferischen Menschen besteht nun nicht allein in der Darstellung von zentralen Werten seiner Kultur – wodurch er zu einem gefeierten Repräsentanten seiner Zeit werden kann, mithin zum „populären Künstler“, der über seine vielfältige Reproduktionsreputation nicht selten unbeschwerte Seherlebnisse ermöglicht (da er das Bekannte zeigt) – sondern auch darin, dass er die für seine Zeit kompensatorischen und dadurch eben vielfach unbewussten Werte und Inhalte gestaltet. Vertritt er die zu seiner Zeit kompensatorischen Werte, d.h. Werte, die in Opposition zur Zeit stehen, wird er vielfach zum Aussenseiter, der für seine Rolle das Schicksal des Aussenseiters zu erleiden hat, da er als unverständlich, bisweilen als Scharlatan gilt. Sokrates ist hierfür ein klassisches Beispiel, in der Malerei des 20. Jahrhunderts alle Pioniere, welche neue Perspektiven des Sehens eröffneten, bis hinzu Joseph Beuys (9). Im Gegensatz zum „populären Künstler“ kann man hier eher vom „berühmten Künstler“ sprechen, dessen Name in der Regel bekannter ist als sein Werk. In der Kunst können sich nun archetypischen Vorstellungen in vielfältigen Ausdrucksformen zeigen. Das Werk eines Künstlers kann eine Fülle archetypischer Inhalte berühren. Allein: die Bezeichnung von solchen „Urbildern“ in einem Werk ist noch kein Garant dafür, dass der Künstler von den entsprechenden Inhalten – welche nicht an erkennendes Bewusstsein gebunden sein müssen – auch tatsächlich ergriffen ist. Die Bedeutung eines Werkes misst sich allemal erst daran, inwiefern die Intensität der Ergriffenheit (Inhalt) im Einklang steht mit der Intensität und Qualität der Formgebung. Der Inhalt bedarf der Reflektion durch die Form; denn erst neue Formenprinzipien können neue Inhaltlichkeiten fassbar und bewusst werden lassen (vgl. hierzu nochmals Cézanne und als entsprechende Gegenbeispiel die Präraffaeliten).

So sind die Anlagen des schöpferischen Künstlers häufig solche, die der Zeit vorausgreifen. So können neue Fähigkeiten und Verhaltensweisen in der Kunst erstmals auftauchen und darin von andern erahnt werden, ehe sie in andern Bereichen des Lebens überhaupt richtig begriffen werden. Dieses Zusammenspiel von Inhalt und Form begründet nun eine weitere Schwierigkeit im Zugang zu moderner Kunst: der Betrachter werte in erster Linie die Inhalte, während erselten konkret etwas von der Konzeption, von der „Körperlichkeit“ eines Inhaltes zu sehen vermag. Der Betrachter sucht die Äusserlichkeit einer Figur, ihre leichte Benennung, die Wiedererkennbarkeit. Doch für den Künstler (wie auch für den Inhalt) kann diese Form der leichten Identifizierbarkeit problematisch sein: „Onkel hin, Onkel her, ich muss nun weiterbauen“ (Paul Klee, 10), sagt sich jener Künstler, der sich vordringlich mit seiner Methodes des sehens – und n icht der repräsentation von Inhalöten – auseinandersetzt. So entwickelt sich die Kunst auf dem Weg von Aussen nach Innen, von den grossen Taten der Welt hin zu inneren Monologen. Dergestalt enthüllt Kunst noicht ein einmaliges Ereignis, ein Werk öffnet nicht die Tore des bekannten, sondern bildet verschlungene Gänge, sich immer weiter dehnende, verzweigende. Jeder einzelne Schritt ist ein Brechen eines Widerstandes, kann mitunter schmerzlich sein (11). Sicher: „Das Höchste ist ungeheuer einfach, ist vorbildlich klar.“ (Ludwig Hohl, 12) Aber es ist auch einfach bis hin zum Ungeheuren – und dieses Einfache und Ungeheure versteht nicht jeder Mensch (so sehr man sich auch darum bemühte). Das Wesentliche wird nicht eben verständlich, indem man es auflöst, korrupt macht, dass es jedermann zugänglich wird. Oder um mit Marcel Duchamp zu sprechen: „Die Kunst hat nichts mit Demokratie zu tun.“ (13)

Was bedeuten nun diese Überlegungen bezogen auf das Werk von Hans Erni? Diese Frage stellt sich insbesondere auch deshalb, da der Künstler selbst mit seinem „universellen Werk“ einen hohen ethischen, sozialen und künstlerischen Wert beansprucht, sich immer wieder öffentlich und in unzähligen Publikationen hierzu äussert. Hans Erni versteht sich selbst als „peintre compositeur“ – im Gegensatz zum „peintre simpliste“, er selbst tritt ein für eine „bessere Welt“, beansprucht Zeugenschaft für die Sehnsüchte, Träume und Hoffnungen des heutigen Menschen: „ Wenn ich in meinen Bildern und Zeichnungen Hoffnungen der Gesellschaft ausdrücke, sind das immer auch meine persönlichen Hoffnungen.“ (14) und: „Indem ich an meiner Entwicklung als Mensch und als Künstler arbeite, repräsentiere ich Hoffnung, einen Glauben.“ (15) In der Tat: an die Kunst ist diese Erwartung prophetischer Zeugenschaft zu stellen. Und das schliesst ein: die Hoffnung auf eine Entwicklung bis hin zu einer „besseren Welt“ ist immer auch an die Suche und Darstellung von kompensatorischen Werten gebunden, denn just in ihnen schlummern Voraussetzungen und Bedingungen neuer „Welten“. In diesem fundamental geistigen Sinne muss ein Werk mit einem hohen Anspruch wie jenem von Hans Erni betrachtet werden.

So gesehen hängt die Bedeutung nicht von der handwerklichen Beherrschung („Können“) oder der sie begleitenden rhetorischen Kraft ab, sondern von der Macht des dahinter stehenden gestaltendes Geistes. Dieser gestaltende Geist ist denn auch in einigen Werken Ernis sicht- und spürbar: so etwa in den Fassungen der Ikarus-Thematik, in den Werken “Junge Frau im Jahre 1942 n.Chr.“, „Joyce hatte Unrecht“, usf. In ihnen stimulieren sich wechselseitig innere Anteilnahme und äussere Gestaltungskraft. Aus diesem Grunde – und keinesfalls wegen ideologischer Hintergründe der Entstehungszusammenhänge dieser Werke – sind sie bedeutende Bestandteile des Kunstschaffens der Schweiz in dieser Epoche. Eine Weiterentwicklung allerdings, wie sie sich etwa in den Werken Paul Klees oder Henry Moores äussert, lässt sich dann aber nicht mehr verfolgen. Im Gegenteil: auf einmal scheint dieser äussere Widerschein des feurigen inneren Rades, welches durch alle grossen Werke der Kunst zieht, erloschen.

Als exemplarisch für das Schaffen der letzten Jahrzehnte greife ich die „Komposition der Olympischen Sporte“ des bereits 75-Jährigen heraus. In der Thematik des Sportes kann Hans Erni in für ihn bezeichnenderweise ein populäres Thema in Rückgriff auf eine hellenistische Konzeption verbinden, die „glückliche Einheit von Körper und Geist“ beschwören. Konventionell argumentiert könnte man einwenden, dass ein Rückgriff auf das Ideal der Gymnastik des perikleischen Athens nicht geeignet sei, der Aktualität und Zukunft des heutigen Sportbetriebes eine Perspektive zu geben – oder eher feinsinnig einwenden, dass in Ernis Konzept interessanterweise nach wie vor marxistisch-humanistische Sehnsüchte und Simplifizierungen, eine äusserer Fortschrittsgläubigkeit am Leben geblieben ist, wie sie etwa auch im nachstehenden Statement deutlich wird: „Die ganze Wirklichkeit künstlerisch zu formen, ist eine immer wieder neue, nie aufhörende Herausforderung an die Künstler. Das ist aber nicht nur schwierig, es ist auch ungeheure faszinierend, weil die fortschreitende Technik auch dem Künstler neue, wunderbare Mittel in die Hand gibt, die komplexe Umwelt adäquat zu gestalten.“ (Alfred Häsler, 15)

Alle deratigen Einwände gegen ein solches Konzept scheinen mir nicht erheblich im Vergleich zur Frage nach den hinter den Kompositionen stehenden gestalterischen Kraft und deren Verbundenheit mit der sie nährenden inneren Betroffenheit. Es sind just diese Dimensionen, die der Künstler Hans Erni immer wieder selbst beschwört und die mir als Betrachter in einem Bild auch relevant erscheinen. Doch in Ernis Kompositionen sind für mich nicht innere Kraft und Bewegtheit spürbar, sondern lediglich deren äussere Demonstration. Der Betrachter, dem „Nächsten“, den Erni „erfreuen und nützen“ will, werden in leichtfüssiger Gestaltung muskulöse Beine, grimmige Gesichter und elegante Bewegungen vorgeführt. Bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich als leblose Gestalten, geistige Totgeburten. Ihnen fehlt die Mitte. Ihre Gesichter sind nicht Zeugen der Geistigkeit ihres Tuns, ihnen haftet kein Feuer der Auseinandersetzung zwischen der Vision des Künstlers und der Eigengesetzlichkeit malerischer Konzeption an. Sie sind Schattenprodukte handwerklichen Könnens. In Opposition zu den unzähligen Beteuerungen des Künstlers und seiner Adlaten zeugen mir diese Gesichter weder von Hoffnung noch von Schmerz, weder stehen sie in einem inneren Bezug zueinander, noch öffnen sie Blicke in die unendliche Ferne. Ihnen fehlt die Lebendigkeit, mit andern Worten: das Archetypische. So entstehen unter der Hand durch die fehlende inner Anteilnahme trotz des hohen technischen Könnens schlechte Bilder.

Der Charakter der Aussenheit, der Diesseitigkeit dieser Bilder wird durch die Virtuosität Ernis noch verstärkt, als er seine Figuren mit der Konzeption seiner Raumschnitte aggregiert. Man mag dies vielleicht als Ausdruck des „Modernen“ empfinden oder eben eher als verwirrend. Dem Nachdenklichen ruft es allemal die Frage wach, ob der Künstler vielleicht selbst der Aussenhaftigkeit seiner Figuren nicht ganz traute und ihnen mit seinen Raumschnitten eine tiefere Wirklichkeit zu vermitteln suchte, dabei jedoch nur noch mehr in der Aussenhaftigkeit ausglitscht.

Allerdings sind das eher müssige Gedanken, lobt doch das Publikum in Hans Ernis Werken das Verweilen in diesem Aussen, in diesem schönen Schein, der so perfekt gehandhabt wird, sich edel und gebildet gibt, dass er elegant über den dornenvollen Weg hin zum Wesentlichen hinwegtäuscht, allemal „grosse Kunst“ vor Augen führt. „Kunst muss doch ein Aussen haben, auf die Welt bezogen sein“ orakelt das Publikum in seiner Sucht nach Figuren, unwissend, dass auch unterwegs ins Unaussprechliche immer noch genug Aussen bleiben wird. Um Missverständnissen vorzubeugen: damit wird dem Rückzug in private Welten, dem Einzug in die „neue Innerlichkeit“ das Wort gesprochen, nicht der indivduellen Absicht im Werk, sondern der Bemühung um die Wahrhaftigkeit eines Bildes – im Gegensatz zu „falschen Blüten“.

Es ist bitter für eine Kultur – und für die Kunst im besonderen, wenn bei einer Auseinandersetzung mit derartigen Werken auftauchende Zweifel unverblümt Lobeshymnen geopfert werden. Exemplarisch hierin Kaspar Wolf im Katalog „ Olympia – gestaltender Sport“: „ In Würdigung des Gesagten gelangen wir zu einer vielleicht merkwürdig anmutenden Schlussfolgerung. Eingangs stellten wir fest, Hans Erni habe „Zeit seines Lebens den Sport in sein Kunstschaffen einbezogen“. Allein, nach und nach müssen wir erkennen, dass sein Werk gar manches aus der Welt des Sportes ausschliesst. Es ist sehr viel sogar, was diese Welt sonst so schillernd, vielgesichtig, abgründig auch erscheinen lässt. Die Mitte des Phänomens Sport trifft Hans Erni nicht. Sollten wir, die wir in Hans Erni den Mann bewundern, der dem Sport Glanzlichter aufsetzt, vor einem Scherbenhaufen stehen?

Wir müssen die Sache anders deuten, richtig sehen, ungeschminkter auch. Hans Erni gestaltet in seinem schöpferischen Werk in derTat nicht den Sport an sich. Er meint den Menschen. Und wenn er Olympia sagt, meint er den Menschen, der sich einst, und auch nur für eine Zeitspanne, im antiken Olympia verwirklichte – den humanen Menschen, der die Neuzeit so dringend benötigt. In dieser Sicht ist das Ergebnis viel bedeutsamer. Erni schafft aus innerer Überzeugung und mit der ganzen Suggestivkraft seiner meisterhaften Kunst den vom Sport geadelten Menschen der Zukunft.“ (16) So schleichen sich Fehler ein; auch dann, wenn in Zusammenhang mit Ernis Werk unbedacht von Archteypischem die Rede ist. Das Archetypische ist heute weniger denn je eine veräusserlichte Figur (ein feuerbezwingender Prometheus, ein alles beherrschender Kybernetes), sondern der Ausdruck einer inneren, verborgenen Kraft in einer Form, die nicht in plakativer Absicht auf der Leinwand aufersteht, sondern sich in unaussprechlicher Synchronizität zwischen vertiefendem Geist und seinem ihm gegenüberstehenden Material einstellt: stumm, selten kenntliche Mimen, deren Tanz zum Gleichnis und darin erst gültig wird. Und diese Formen entstehen allemal erst aus einer Vision von Inhalt, aus einem Berührtsein, Ergriffensein, aus einem Gequältsein durch das Leben des Menschen, des Künstlers wie des Betrachters selbst. Dieser stillen und unerbittlichen Suche nach wahren Bildern ist unsere bilderüberflutete Zeit so bedürftig. Ernis Bilder dagegen – und exemplarisch stehen hier seine Olympia-Bilder zur Debatte – sind nicht solche Botschaften, sondern erschöpfen sich in zumeist belanglosen Mitteilungen an jedermann. Sie sind unverbindlich, leicht verständlich und in der Ausführung von schweizerischer Sorgfalt. Hierdurch begründen sie ihre Popularität, nicht aber ihre Wahrheit. Denn die Wahrheit ist nicht in Büchsen zu kaufen, sondern muss vom Künstler wie vom Betrachter immer wieder erkämpft werden (was nicht jedesmal gelingen kann). Ihr Schauplatz ist ein stiller Winkel – nicht jener des Rückzugs, sondern jener der Konzentration. (Wohl deshalb sind alles Genies des 20. Jahrhunderts nicht von der spektakulären Art: die wesentlichen Neuerer haben allesamt beinahe in der Anonymität gelebt, ruhig, beständig, beherrscht und in hohem Masse der Kräfte ausserhalb ihrer selbst bewusst.) Und Goethe: „Warum ist Wahrheit fern und weit? Birgt sich hinab in tiefste Gründe. Niemand versteht zur rechten Zeit! Wenn man zur rechten Zeit verstünde, so wäre Wahrheit nah und breit Und wäre lieblich und gelinde.“ (17)

Bleibt eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Demarkationslinie um Person und Werk von Hans Erni. Hans Erni verbindet in seinem Werk Darstellungen tradierter Bildungsgüter (klassische Motive der griechischen und westeuropäischen Geistesgeschichte) mit formalen Elementen der Moderne und Illustrationen wissenschaftlicher Modelle. Den Werken haftet ein hohes Mass an an Rationalität an. Dies ist eine Folge von Ernis Konzeption: die illustrative Form appelliert unmittelbar an den Verstand, an rationales Erklären und Verstehen. So eingegrenzt vermögen sie allerdings nicht den Blick freizugeben in jene archetypische Tiefe und Ferne, die charakteristisch ist für Werke, die um den Sinngehalt möglicher neuer Inhalte kreisen, für Bilder, deren Kraft kompensatorisch zur Zeit stehen sollen, wie es der Künstler immer wieder für sich beanspruchen möchte. (18) Dergestalt droht Ernis Werk die Gefahr, in „moderne Alternativen“ zu überkommenen Dekorationen des 19. Jahrhunderts abzugleiten. Bei virtuoser Demonstration „künstlerischen Könnens“ (Kunst hat ja im öffentlichen Bewusstsein nach wie vor mehr mit Hand- denn mit Geistesarbeit zu tun) bieten sie pflegeleichte Sinnorientierung und geben selbst Magistraten Gelegenheit, sich einmal öffentlich zu „zeitgenössischer Kunst“ zu bekennen. Der von Hans Erni als „Öffnung hin zum Nächsten“ verstandenen Geste haften paradoxerweise auch Züge der Isolation an.

Dem Kunst- und Ausstellungsbetrieb ist Erni auf Distanz geblieben. Seine Freunde stammen aus Wissenschaft und Politik, nicht aber aus der Kunst. Ob diese Konstellation ein Ergebnis persönlicher Einsamkeit ist, bleibe dahingestellt. Durch die fehlende Nähe zu Künstlern – die Rede ist hier von der Nachkriegszeit – ist Erni jenes Klima versagt geblieben, welches ein kunstspezifische Orientierung und Auseinandersetzung erst fruchtbar werden lassen könnte. Letztlich waren und sind es die Künstler selbst, die die nächsten, wirkungsvollsten und wohl auch präzisesten Kritiker für den Künstler selbst sein können (19). Der Verlust aus dieser Isolation ist wohl beiderseitig: sie hat die Kunstszene um eine grosse Kraft, den Künstler selbst um seine künstlerische Entwicklung gebracht. Die Isolation gegenüber der Kunst und die Öffnung hin zu einer breiteren Öffentlichkeit hat durch wechselseitige Prozesses einen eigentlichen Graben entstehen lassen: In dem Masse nämlich, in dem sich die Öffentlichkeit und ihre Repräsentanten um das Werk schart und gleichzeitig Ansätze kritischer Auseinandersetzung ignoriert werden (20), wird Raum frei für Begriffe und Vorstellungen, die von Konventionen, ausserkünstlerischen Implikationen getragen sind. Am Ende wird gar eine Maske zusammengeschustert, hinter der sich Künstler und Werk verstecken lassen (21). Ernis Begabung wird hierin mit humanen und ethischen Begriffen zelebriert, die nirgends mehr Anstoss noch Nachdenken erregen. Zurück bleiben Klischées. Und diese haben nebst vielen Unarten just diese: sie schliessen Analyse und Kritik aus. In diesem Circulus vitiosus drängt sich die Frage auf: Hat die Bewunderung durch das Publikum – und Bewunderung schliesst immer auch eine unkritische Haltung mit ein – Hans Ernis künstlerische Entwicklung zum Stillstand gebracht? Was für ein Selbstverständnis zeigt in dieser Situation der Künstler selbst? Setzt er sich zur Wehr? Wird er missverstanden? Sieht er sich vor zu viele Interessen gespannt? Derartige Fragen und Zweifel, wie sie Erni etwa im „Tagebuchblatt eines Urbanisten“ (1941) oder „Das Schulzeugnis“ (1941) noch ausdrückte, fehlen später weitgehend. Mehr noch: Zeugnisse tiefster menschlicher Regungen sucht man bei Hans Erni in den Arbeiten der letzten Jahrzehnte vergeblich. Das nährt den Verdacht, dass ein breites und vielfältiges Werk keine äussere Ausdehnung von innerlich Errungenem verkörpert.

Hans Ernis spricht in Worten und Werken von vielem. Und selten liesse sich unvermittelt etwas gegen seine gebildete Rhetorik Einwenden. Nur eines wird spürbar: so brillant seine Erklärungen auch klingen mögen, sie sind nicht getragen von einem Strom inneren Ringens, von der Verpflichtung zur unteilbaren Wahrheit. Es bleiben Erklärungen. Vergleicht man als Kontrast etwa die Briefe van Goghs, so wird deutlich, wie gerade die besten von ihnen eben nicht Erklärungen zu Person und Werk sind, sondern dem Werk ebenbürtig – in sich – auf der Höhe der besten Bilder stehend. Dieses glatte, sich widerspruchslos gebende Werk zeigt auch im Alter keine Falten, weder der Abnützung noch des Kummers. Die handwerkliche und rhetorische Meisterschaft scheinen nach wie vor ungebrochen. Keine Altersgeständnisse tauchen auf, Vergangenes wird nicht nochmals aufgegriffen, überprüft (von verunglückten Bildern wie „Pontius Pilatus (1975), „Karfreitag Luzern“ (1976) einmal abgesehen. Übersieht man die – zugänglichen! – Werke der letzten Jahre, so wird keine Reinigung spürbar, keine Klärung bis hin zu dem Masse, dass es nur noch Notwendiges gibt, ohne jede Beifügung. Auch jene Verzweiflung wird nicht spürbar, welche alle grossen Geister im Alter erlebt haben, etwa vor dem Tod, dem Sumpf der Wirkungslosigkeit, dem Vergehen aller Dinge. (22)

Wie einsam ist Hans Erni wirklich? Von vielen Freunden des falschen Beifalls umzingelt? Für welche Stimmen nicht mehr erreichbar? Die tiefen menschlichen Regungen scheinen Hans Erni auch im Alter nicht zu erreichen. Wie eine Maschine arbeitet er unentwegt gleichbleibend weiter. Die Konsequenz eines Schaffens, das sich nicht aus schöpferischer Not nährt und belebt, dessen Themen nur von des Gedankens Blässe angesäuselt sind und dessen Werk schon längst nicht mehr einen verbindlichen Adressaten hat: ein Künstler ausserhalb der Kunst. Doch: Was dem Talent eines Künstlers widerfährt, kann in einer verschlüsselten Form durchaus auch Zeugnis ablegen für das, was mit seinen Zeitgenossen geschieht, kann für die Befindlichkeit einer Gesellschaft selbst stehen. Ist Hans Erni nicht vielleicht doch auch ein repräsentativer Zeitgenosse der helvetischen Konsensgesellschaft ?


Anmerkungen: 1 Enzo Cucchi in: Ein Gespräch/Una discussione, Parkett-Verlag Zürich 1986 2 Hans A. Lüthy/Hans-Jörg Heusser: Kunst in der Schweiz 1880 – 1980, Zürich 1983, p. 77 3 John Matheseon: Hans Erni, Das zeichnerische Werk und öffentliche Arbeiten, Frauenfeld 1981, p. 22 4 Konrad Farner: Hans Erni, ein Maler unserer Zeit, Basel 1945, p. 15/16 5 Jean-Christophe Ammann (Hrsg.) Zeitgenossen sehen Hans Erni, Luzern 1972, p. 6 Vgl. hierzu Konrad Farner: Absage an Hans Erni, in: Tendenzen 7/37, München 1966 sowie Fritz Billeters Nachzug im Tagesanzeiger Zürich vom 16.8.1969: Abrechnung mit Hans Erni. Später auch noch: Hans Erni – vor 30 Jahren ein bedeutender Maler, Tagesanzeiger 18.11.1976 7 John Berger, Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso, Hamburg 1973, p. 163 a.a.O. p. 164 8 Es wäre interessant, Quervergleiche zwischen dem in einer tiefen humanistischen Tradition stehenden Kunstschaffen von Jospeh Beuys und dem humanistisch sich gebärdenden Wer von Hans Erni anzustellen. Beuys erinnert sich in seinem vielgestaltigen Werk immer wieder an die Natur- und Menschheitsgeschichte, greift Ideen aus der romantischen Naturwissenschaft und Philosophie auf – darin tief verwandt mit Goethe und Rudolph Steiner – und entwickelt daraus seine Vorstellung einer neuen Lebensordnung. 9 „ Das Wichtigste, was der Gesellschaft in der Gegenwart verborgen ist, ist das Seelische. Es wird soviel von Entfremdung gesprochen. Und das Seelische ist ein Ausdruck für etwas Unsichtbares. Auch den Willen hat man als begriff, aber man kann ihn sehen, wenn man will. Dazu müssen ganz bestimmte Übungen gemacht werden. Man muss trainieren, um in hohe Schichten des Denkens zu kommen. Inspiration oder Intuition – ich finde das sind bessere Begriffe als Vision, denn der Begriff der Vision hat etwas Zwanghaftes, Pathologisches, Paulus hatte eine Vision – sind nicht verschwommene Dinge, sondern höhere Formen des Erkennens und Denkens. Jetzt kommt man doch allmählich in eine Beschreibung des Wesens Mensch hinein und in eine Beschreibung dessen, was er von der Kunst erwartet. Das muss ihm doch einmal als Ebenbild vorgesetzt werden. Was man ihm jetzt vorhält, ist ein Schweinekotelett im Kühlschrank.“ in: Ein Gespräch, a.a.O. p. 135 10 Vgl. hierzu Paul Klees Vortrag „Über die moderne Kunst“ (1924) 11 Vgl. hierzu etwa Henri Matisse: „Die zur Befreiung von den Bildfabrikaten (durch Photo, Film, Reklame) notwendige Anstrengung verlangt einen gewissen Mut, und dieser Mut ist für den Künstler unentbehrlich, der alles so sehen muss, als ob er es zum ersten Mal sähe. Man muss zeitlebens sehen können, wie man als Kind die Welt ansah, denn der Verlust dieses Sehvermögens bedeutet gleichzeitig den Verlust jeden originalen Ausdrucks. Ich glaube z.B. dass nichts für den Künstler schwieriger ist, als eine Rose zu malen, weil er, um sie zu schaffen, zuerst alle vor ihm gemalten Rosen vergessen muss.“ In: Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Hamburg 1956, p.37 12 Ludwig Hohl, Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung, Frankfurt 1981, p. 287 13 Serge Stauffer (Hrsg.), Marcel Duchamp, Ready Made, Zürich 1973, p. 35 14 Alfred A. Häsler, Gespräch mit Hans Erni: „Mein Ziel: Erfreuen und Nützen“, Ex Libris No. 9, Zürich 1978, p.17 15 Alfred A. Häsler, a.a.O. p. 20 16 Kaspar Wolf in: Hans Erni: Olympia – gestaltender Sport, Luzern 1984, p. 24 (erstmals in: Zeitgenossen sehen Hans Erni, Luzern 1972) 17 Johann Wolfgang von Goethe in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, Frankfurt 1982, p. 892 18 Eine nicht illustrative Form wirkt demgegenüber zunächst auf die Empfindung – mithin auch auf unbewusste Schichten – des Menschen ein und sickert erst nach und nach zur Wirklichkeit durch. Hierin steht sie noch in einem inneren Bezug zur Wirklichkeit selbst, ist doch auch diese immer mehrdeutig, nie ausschliesslich im rationalen Denken verhaftet. 19 Vgl. als prägnantes Beispiel in der englischen Literatur die wechselseitige Auseinandersetzungen zwischen Eliot, Pound und Yeats. 20 So fehlen interessanterweise in allen von Hans Erni verfassten Bibliografien die hier in Anmerkung 5 verzeichneten kritischen Artikel zu Ernis Schaffen. 21 Ein hierzu symptomatischer Beitrag ist der hier zitierte Aufsatz von Kaspar Wolf. 22 Ein Beispiel für viele: Picassos Altersgeständnisse.