2011 FLOATING  IN  ALERTNESS

Wissenschaft und Kunst in der Praxis von La Claustra  Ein Beitrag zur Umwertung und Neubewertung von Erkenntnisformen  ETH-Zürich 5. Mai 2011




Der Titel meiner Vorlesung ist bewusst kryptisch gefasst; dies in der Absicht, Raum für Mehrdeutigkeiten zu öffnen, Sie als Teilnehmer etwas “schweben” zu lassen, ohne dabei Ihre Wachheit dennoch zu beanspruchen.

 Floating              -> Schweben

Alertness            -> Wachheit

Damit ziele ich eher auf einen “state of mind” denn auf eine analytische Definition, auf einen Zustand also, wie man ihn u.a. aus Techniken wie jenen des Brainstormings kennen.

Ich könnte Sie auch fragen:

Denken die Augen oder sehen die Augen

Zum Zeit-/Themenablauf:

Teil 1: Reflexion   Fragen - Statement - Akkademie

Teil 2: Vorstellen des Kunstprojektes Gotthardprojekt (Illustration Video-Clip Claustra)

Teil 3: Diskussion 

I FRAGEN

Ich blättere in Ihren Unterlagen:

“Die Wissenschaft ist auf das Abstrakt-Begriffliche ausgerichtet und die Kunst ist auf das Konkret-Sinnliche orientiert. “

“Die Wissenschaft will die natürlich vorkommenden oder experimentell hervorgerufenen Phänomene verstehen und damit die gesetzmässigen Bedingungen der erfahrbaren Welt erkennen. Der Kunst geht es - neben der äusseren Realität - auch um innere Befindlichkeiten des Menschen und um die Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen. “

So weit, so bekannt. Solche Unterscheidungen belegen sich kulturgeschichtlich bis vor die Mitte des 20. Jt. ohne Bedenken und scheinen offensichtlich. Sie sind unserem europäischen Kultur- wie Wissenschaftsverständnis inhärent. Sie sind Ausdruck der bis in den Beginn unserer Neuzeit zurückgehenden Dichotomisierung von objektiver Wissenschaft und subjektiver Kunst, im Sinne von:

-       innere Befindlichkeiten des Menschen darstellen  

= subjektive Wahrhaftigkeit, also auf den Menschen bezogen

-       gesetzmässigen Bedingungen der erfahrbaren Welt analysieren

=  objektive Wahrheit, also auf die Sache bezogen

 Sie sind aber für die aktuelle Diskussion dennoch irreführend, als sie primär Inhalte fokussieren und nicht Methoden und Strategien. Zudem wird diese Unterscheidung aber spätestens im 20. Jt. sowohl von der Wissenschaft wie von der Kunst laufend durchbrochen.

So zieht etwa der Wissenschaftshistoriker und Kulturtheoretiker Theo Steiner “aus Duchamps Experimenten die Lehre, dass eine Polarisierung zwischen hier Naturwissenschaft und Wahrheitsanspruch und dort Kunst und Erfindung von Neuem überholt ist. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts sind in beiden Erkenntnisfeldern diese Ansprüche einer weitgehenden Revision unterzogen worden. So zeigte etwa die Heisenbergsche Unschärferelation schon auf quantenmechanischer Ebene, dass die Wissenschaften Realität nicht nur beobachten und ihr Funktionieren beschreiben, sondern genau dadurch auch hervorbringen; so arbeitete etwa Samuel Beckett daran, Wirklichkeit nicht künstlerisch zu imaginieren, zu verklären oder zu verfremden, sondern zu ihr überhaupt erst durchzustoßen.” (Quelle: http://www.artnet.de/magazine/theo-steiner-duchamps-experiment/) (siehe hierzu: Theo Steiner, Duchamps Experiment – Zwischen Wissenschaft und Kunst, München 2006)

 Die seit der westlichen Neuzeit anhaltende gesellschaftliche Differenzierung hat sowohl in Wissenschaft wie in Kunst herausragende Leistungen und Erkenntnisgewinne produziert, allerdings zum Preis wachsender Verständigungs- und Legitimationsprobleme. Die Verknüpfung der beiden Systeme Wissenschaft und Kunst mit jeweiligen Interessensystemen bestimmte letztlich auch deren gesellschaftliche Relevanz.

Ich möchte deshalb mit meinen folgenden Äusserungen beitragen zur Klärung der Begriffe, zur Klärung der Erwartungen.

II STATEMENT WISSENSCHAFT UND KUNST ALS ZEICHENSYSTEME

 Ich verstehe das Zeichensystem KUNST im klassischen, griechischen Sinne als TECHNE und nicht im lateinischen Sinne als ARS, nicht als Ausdruck genialischen sondern höchst rationalen Könnens. In der Unterscheidung zur Methodik der Wissenschaft betrachtet  jene der Kunst nicht  Manifestes, Bestehendes, sondern sucht produktiv Latentes, Mögliches auf.

latens (lat.)           = verborgen

manifestus (lat.)    =  handgreiflich gemacht

Die noch heute praktizierte Antinomie zwischen Wissenschaft und Kunst ist ein Erbe der Neuzeit und des technisch-rationalen Fortschritts. Die im Zeitalter der Renaissance ausgehende neue Wissenschaft erstezte Erfahrung durch Konstruktion. Damit trennen sich Erfahrungswelten und Wissenswelten. Das exakte Wissen der Wissenschaft erwies sich insbesondere in Verbindung mit ökonomischen Interessen (Erschliessung der fortan globalen Welt der Ressourcen) als zunehmend produktiv. Damit kann die Kunst nicht Schritt halten.

Sie gewinnt zwar als Bewahrerin von Lebenswelten Konturen, gilt aber zunehmend als Gegenprinzip zum aufklärerischen und produktiven Geist der exakten Wissenschaft (so etwa im Barock).

Erst am Vorabend des 20. Jt. formulierte Nietzsche in seiner Schrift “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” programmatisch, “die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen”(1872).

Doch auch im 20. Jt. versteht sich die Annäherung der Kunst an die Wissenschaft eher durch die Nutzung der technischen Systeme wie Synthesizer, Computer etc. oder allenfalls durch Analogien (etwa in den Entsprechungen zwischen makroskopischen Schnitten und informellen Bildern).

Damit wird die Methodik der Kunst noch keineswegs auf die gleiche Stufe gerückt wie jene der Wissenschaft. Nicht die äussere Nähe bringt der Kunst gesellschaftliche Akzeptanz, sondern die Anerkennung, dass auch Kunst über erkenntnisrelevante Methoden verfügt.

Wesentlich ist also die Einsicht, dass Kunst wie Wissenschaft gesellschaftlich relevante Erkenntnissysteme sind. Und die Basis eines jeden Erkenntnissystems ist das Ausweisen seiner Methoden.

Hierzu Peter Weibel (den Sie auch in Ihren Unterlagen zitieren):

“(…) Kunst und Wissenschaft können nur vernünftig verglichen werden, wenn wir akzeptieren, dass beide Methoden sind. Das bedeutet nicht, dass wir erklären, dass beide dieselben Methoden besitzen. Wir wollen nur erklären, dass beide eine methodische Annäherung haben, selbst wenn ihre Methoden verschieden sind oder sein können.Demnach können Kunst und Wissenschaft im methodologischen Sinne als konvergent angesehen werden. Immer dann wenn Wissenschaft Tendenzen zu einer zu autoritären, zu dogmatischen Methode entwickelt, wendet sie sich der Kunst und ihrer Methodologie zu, dass heisst der Mannigfaltigkeit der Methoden.”

(Peter Weibel, The Unreasonable Effectiveness of the Methodological Convergence of Art and Science“, in: Christa Sommerer und Laurent Mignonneau, Art&Science, Wien/New York 1988). 

Das fundamentale Kapital aller künstlerischen Methoden liegt in ihrer Fähigkeit zur Latenz, die Fähigkeit, zu gegebenen Realitäten Möglichkeiten aufzuspüren, zur manifesten welt latente Potenziale hinzuzufügen. Darin besteht die eigentliche produktive Kraft der Kunst. Verkürzt betrachtet wird das nicht selten als gesellschaftsverändernde Kraft der Kunst angesehen. Doch Kunst verändert die Welt genauso wenig wie es die Wissenschaften tun. Aber während die Wissenschaft von  in ihren Augen intersubjektiv überprüfbaren, objektiven Fakten spricht, stellt die Kunst Möglichkeiten hinzu, Entwürfe, wie etwas auch noch aussehen kann. Die Veränderung selbst erfolgt dann durch die diese Produkte und Prozesse der Erkenntnissysteme Kunst und Wissenschaft anwendenen Menschen, konkreter: gesellschaftlicher, insbesondere ökonomischer Interessen.

Salopp kännte man auch davon sprechen, dass die Reinheit der Wissenschaft durch den Schmutz der Kunst zukunftsfähig gemacht wird – oder eben: gemacht werden kann: Es liegt ja gerade am Wirkbereich “Möglichkeit”, dass er eben nicht Realität ist, sondern Option. Optionen sind aber für jede Gesellschaft wesentlich, weil es die reine Wirklichkeit gar nie gibt. Wir leben stets in einer Welt von – mehr oder weniger 

– gelungenen Täuschungen, welche zwar in jeder Epoche immer wieder wissenschaftlich untermauert zu werden bedürfen, dennoch stets konstruiert und reversibel sind.

In diesem Sinne  haben Kunst wie Wissenschaft produktiven Charakter und erzeuegn Weltsysteme.

Heute ist wissenschaftliches Tun nicht mehr ausschliesslich reines, intersubjektiv überprüfbares Erkennen, künstlerisches Schaffen nicht ausschliesslich subjektives Handeln. Beides sind Erkenntnissysteme, Unternehmen der Wirklichkeitserzeugung. Wissenschaft ist selbst imaginativ geworden, so wie Kunst andererseits systematisch.

Kunst ist weder Oppositions- noch Kompensationsprogramm zur Wissenschaft, sondern ebenfalls ein Erkenntnissystem. Mit – und das ist ihr signifikanter Unterschied zur Wissenschaft – latenter Rationalität

In diesem Wandel der Erkenntnissysteme (oder eben auch in der Rückkehr zur alten, eingangs erwähnten griechischen Einsicht) bildet etwa die Alchemie ein wichtiges Bindeglied (siehe Duchamp).

Welche Konsequenzen sind aus diesen Überlegungen zu ziehen?

Ich versuche die Umsetzung bisheriger Überlegungen anhand meines eigenen Schaffens sichtbar zu machen. Dabei handelt es sich natürlich nicht um ein stringentes Umsetzen, um die Realisierung eines definierten Planes, sondern um die Beobachtung eigenen Tuns, welches sich im Nachhinein als Mäandrieren entlang einer Grundidee entpuppen könnte. Deshalb ist es denn auch angebracht, von einem Projekt zu sprechen – dem Gotthardprojekt.

Ich gebe deshalb diesem Abschnitt den Titel:

III DENKEN UND ERFAHREN IM BERG

 In einer Tagebuchnotiz vom 30. Oktober 1985 lese ich:

„ Der Gotthard ist der Piccadilly Circus,  der Times Square, die Place de la Concorde, der Punkt, von dem alle Gedankenstrassen ausgehen,  und zu dem sie letzten Endes zurückkehren.“

Lassen Sie mich – für jene unter Ihnen, die den Gotthard nicht kennen – kurz umreissen, worum es sich hier handelt. In der Schweiz gibt es ein Gelände, das seit Jahrhunderten als eine zentrale Kulturlandschaft gilt: der Gotthard. Man kennt ihn als Tunnel und als besonderen Berg.  Die Wahrnehmung des Gotthards ist geprägt durch die Vorstellung der "Zitadelle" oder des "Dach Europas": In felsigem Massiv entspringen Flüsse in die vier Himmelsrichtungen, die Luftmassen des Kontinents prallen aufeinander, verschiedene Sprachen und Kulturen, ein Paradox: ein Mittelpunkt und eine Grenze in einem.  Dieser Gotthard war bereits für Julius Cäsar etwas Besonderes: er hielt die Lepontischen Alpen (und damit das Gotthardmassiv) für die höchsten. Diese Vorstellung über den Gotthard blieb während vielen Jahrhunderten unangefochten. Allerdings hat es einen Berg namens Gotthard nie gegeben. Dokumentiert ist erstmals die Einweihung einer Kirche auf der Passhöhe gegen Ende des 12. Jh. zu Ehren des kurz vorher kanonisierten heiligen Godehardus (Bischof von Hildesheim). Der Gotthard ist somit einer der jüngsten Pässe überhaupt. Doch im Gegensatz zu anderen Passübergängen blieb der Gotthard stets von einem Geheimnis umwoben.

Der Mangel an historischen Fakten hat immer wieder Phantasien und Spekulationen freigesetzt.

" Der Gotthard ist zwar nicht das höchste Gebirge der Schweiz, und in Savoyen übertrifft ihn der Montblanc an Höhe um sehr vieles; doch behauptet er den Rang eines königlichen Gebirges über alle andere, weil die grössten Gebirgsketten bei ihm zusammenlaufen und sich an ihn lehnen. (...) So befindet man sich hier auf einem Kreuzpunkte, von dem aus Gebirge und Flüsse in alle vier Himmelsgegenden auslaufen." schreibt Johann  Wolfgang Goethe in einem Brief vom 13. November 1779 aus der Schweiz. 

 Mit der technologischen Entwicklung wird der Gotthard und seine eigentliche Charakteristik als kürzester Alpenpass innerhalb Europas kulturell bedeutsam.  Der "Stiebende Steg", eine rund 60 m lange, mit Querhölzern versehene und an Ketten aufgehängte Brücke über der Schlucht in der Schöllenen bei Andermatt und der erste Tunneldurchstich in den Alpen zu Beginn des 18. Jh. bilden den Anfang.  Der damals längste Eisenbahntunnel am Ende des 19. Jh. wird zu einem wichtigen Einschnitt in der Passgeschichte und hundert Jahre später macht der Strassentunnel den Individualverkehr unabhängig von Jahreszeiten und Fahrplänen. Zu Beginn des dritten Jahrtausends meistert die NEAT, die Neue Europäische Alpen-Transversale, als Flachbahn den Berg dann vollends. Im Gefolge wachsender verkehrstrategischer Bedeutung dieses Territoriums wächst auch die militärische: der Berg wird zur Sicherung der Verkehrswege aufgerüstet. Die Befestigung des Gotthards ist anfänglich umstritten. 1885, drei Jahre nach der Eröffnung es Gotthardbahntunnels, wird ein erstes Festungswerk gebaut, um eine ursprünglich geplante totale Landesbefestigung zumindest partiell an der Südfront, am Gotthard, in Angriff zu nehmen. 

Die Anlagen bleiben vorerst ein partielles Befestigungswerk. Erst während des 2. Weltkrieges erhalten sie nationale Bedeutung: die Vorstellung eines unterirdischen Rückzugsterritoriums , das „Réduit“ prägt sich als Symbol des Widerstandes ein. Mit dem Rückzug der Armee aus den Befestigungsanlagen am Ende des 20. Jh. ist die Faszination dieses Territoriums weiterhin erhalten geblieben. Sie bewegt weiterhin unzählige Menschen. Touristisch ist das Gebiet nur spärlich erschlossen, diese Welt hat heute wenig konkrete Ausdrucksformen mehr und schlummert gleichsam als Geheimnis vor sich hin: ein Gelände, das es neu zu entdecken und zu entwerfen gilt.

Meine mittlerweile rund 30jährige Auseinandersetzung bezieht sich somit auf ein ganz konkretes Territorium in den europäischen Zentralalpen.  Als Kunstprojekt ist es Ausdruck eines Erkundens, eines Sichbarmachens ausserhalb geläufiger historischer und kultureller Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen. 

Diese Strategien des Erkundens einer Landschaft unter dem Namen GOTTHARDPROEKT sind bisher in fünf Teilprojekten sichtbar geworden. Ich folge hier den Ausführungen der Kunsthistorikerin und –kritikerin Corinne Schatz:

CAMERA beobachtet mit fotografischen Mitteln die äussere Gestalt der Erde und lässt sie in ihrer Wandelbarkeit im Fluss der Zeit, des Wetters und des Lichtes als lebendigen Organismus erscheinen. LA PRIMA LINEA schafft, einer unterirdischen Ader gleich, eine materielle und geistige Verbindung zwischen dem Gotthard und Mailand, dem kulturellen und religiösen Ursprungsort des Hospizes auf dem Pass. Die in regelmässigen Abständen in die Erde eingelegten Platten mit Texten und Bildern verbinden die beiden Fixpunkte. BIBLIOTECA sammelt in Wort und Bild subjektive Erfahrungen, aus dem Studium verschiedenster Quellen gewonnene Erkenntnisse menschlichen Denkens und Forschens. Sie ist das Gedächtnis- und Ordnungssystem des Projektes. SCENOGRAFIA  inszeniert in mythischen Bildern die Erkenntnisse des Künstlers in Geschichten und Bildern. Zusammen mit Musikern und Performern finden sie im realen Raum des Geländes statt. LA CLAUSTRA ist die Nahtstelle und Öffnung des Gotthardprojektes für andere Personen. Als Labor vor Ort dient LA CLAUSTRA der Wahrnehmung und Vertiefung künstlerischer und wissenschaftlicher Fragestellungen, die sich aus dem Gotthardprojekt ergeben. An diesem Ort werden globale Fragestellungen konkret fassbar. Und im Geiste einer Akademie auf dem Berg werden hier die Sinne geschärft, der wissenschaftliche Austausch und der künstlerische Dialog gepflegt.

Aus der künstlerischen Idee, am Gotthard eine neue Art Forschungs- und Kommunikationszentrum zu errichten, ist 1998 eine Institution entstanden: die „Fondazione LA CLAUSTRA“. Ausgelöst durch die Möglichkeit, ein von der Armee nicht mehr benötigtes  Herzstück des ehemaligen Reduits umzunutzen, entstand das Konzept eines nachmodernen Klosters. Klöster waren seit jeher Orte der Reflexion und der Erkenntnis. Insbesondere waren sie im alpinen Raum auch Ursprung von Besiedlung und technologischem Fortschritts. 

Das 4'000 m2 umfassende unterirdische Territorium der militärischen Anlage sollte soweit ausgebaut werden, dass es als eine an dieser mythischen Welt gelegene Membrane eine neue Erkundung des Gotthards ermöglichen würde.

Nach einer Umbauzeit von vier Jahren konnten am 21. Juni 2002 diese Anlagen in Betrieb genommen und ihrem neuen Zweck zugeführt werden. Mit einem Aufwand von rund 5 Mio. CHF entstand aus dem Artilleriefort San Carlo auf dem Gotthardpass das moderne Kommunikationszentrum LA CLAUSTRA.

LA CLAUSTRA beinhaltet ein Zentrum, das nebst einem künstlerischen Labor einen Akademie- und einen Hotelbereich integriert der für Seminarien und Retraiten offen ist, sowohl für Ausbildungsinstitutionen wie auch für Unternehmen und Einzelpersonen.

Aus ökonomischen Überlegungen heraus ist La Claustra in den letzten Jahren einer breiteren Öffentlichkeit allerdings eher als Felsenhotel und als Ereignisort bekannt geworden.

Davon dann später.

In der Grundkonzeption ist LA CLAUSTRA als eine Art grosse Skulptur zu verstehen. Es ist eine cross-over-Arbeit zwischen Kunst und Philosophie, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Kunst und Alltag, zwischen Kunst und Leben. Das Innere von La Claustra besteht aus 12 Skulpturen. Sie beziehen sich immer wieder auf die menschlichen fünf Sinne, auf unser Verhältnis zu Raum und Zeit, auf Himmel und Erde, auf Zukunft und Geschichte. LA CLAUSTRA ist mithin eine künstlerische Reflexion über den Prozess der Zivilisation, über den Zusammenhang von Denken und Raum. Das "abendländische" Bewusstsein ist von räumlichen Zeitvorstellungen geprägt. Insbesondere verwandelt die Sprache Bewegung immer in Raum; das Nacheinander der Sprache in der Zeit ist als Nebeneinander im Raum ausgeführt. Bewusstsein erschliesst sich somit in räumlichen Vorstellungen: im Gedächtnis als umgrenzter Raum, in Erinnerungen als darin aufbewahrte Bilder, im Erinnern als Bewegung durch diesen Raum.

Orte und Gegenstände besitzen ein verborgenes Leben, das sich dem enthüllt, der ihre Geschichte kennt. Alle "lebenden Dinge" werden im Verborgenen unter der Erdkruste gemacht – ähnlich den Vorstellungen der Aborigines, die glauben, dass alles, auch alle Maschinen des weissen Mannes, seine Flugzeuge, seine Gewehre, seine Toyota-Landcruisers  und alle Erfindungen, die man noch erfinden würde, unter der Oberfläche schlummern und warten, bis sie gerufen wurden. 

Das erinnert an die Metamorphosen Ovids: 

“Ich war ja einst schon Knabe, Mädchen, Strauch und aus dem Meere emportauchender stummer Fisch.”

In diesem Sinne ist LA CLAUSTRA auch eine soziale Plastik, die prozesshaft wächst und reift, zusammen mit den Menschen, die hier drinnen mit-er-leben.

Lassen Sie mich das konkretisieren anhand  der künstlerischen Interpretation der Akkademie-Idee:

IV AKADEMIE  LA CLAUSTRA

Die Akademie ist – ähnlich dem Hain Platons vor den Toren Athens – eine Art Spiel- und Denkwiese. Sie initiiert und vertieft zusammen mit Institutionen aus Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft Forschungsprozesse und verbindet sie mit dem Bedürfnis nach Kommunikation und Vermittlung nach aussen. Als eine Art moderne Tischgesellschaft entwickelt die Akademie ein Rollenmodell, das in der Praxis des Lernens radikal Prozesse (und nicht Strukturen) in den Mittelpunkt stellt.

Die Annäherung an relevante Zusammenhänge, die Praxis täglicher Arbeit in Verbindung mit konkreten Erkundungen der Aussenwelt dienen der Ergründung des Sinns der Dinge. Was wissen wir von den Dingen wirklich?  Welche Wirklichkeiten konstruieren wir uns heute und morgen?

In der Beantwortung dieser Fragen stehen wir vor einem Dilemma: Je weiter sich unsere intellektuellen Instrumente entwickeln, umso mehr tritt die sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung in den Hintergrund. Trotz unübersehbaren Datenmengen ist der Verlust von (kommunizierbaren) Erfahrungen beträchtlich. In dieser Einschätzung ist die weitere Entwicklung u.a. mit der Wiederentdeckung der Sinne verbunden: mit der Wiederbelebung von Sehen, Riechen, Fühlen, Schmecken, Tasten, mit dem Rückbezug auf persönlich gemachte Erfahrungen und die Konzentration auf die Essenzen.

Die Hauptprojekte der Anfangsphase standen Veranstaltungen im Zusammenhang mit dem Umgang mit Quellen in diesem Wasserschloss  (ACCADEMIA ACQUA) und zu Gegenwart und Zukunft dieser Kulturlandschaft (Progetto Orizzonte San Gottardo). Hier geht es u.a. um neue Vorhaben wie die Umwandlung des benachbarten, grossen Artilleriewerkes „Sasso da Pigna“ in einen Themen- und Ausstellungspark.

V Ein Beispiel: ACCADEMIA ACQUA

Die Anlage von LA CLAUSTRA ist unmittelbar in der kontinentalen Wasserscheide auf den Anhöhen des Gotthards gelegen. In ihr entspringen vier Quellen, die Auseinandersetzung mit der Essenz Wasser ist mithin auch programmatisch für die Zielsetzung von LA CLAUSTRA.

Lassen Sie  mich hier kurz ausschweifen, 140 Jahre zurück (oder voraus?) und lassen Sie mich den Ingenieur Cyrus Harding in Jules Verne, Die geheimnisvolle Insel (1870) sprechen:

„Ich glaube, dass Wasser eines Tages als Brennstoff dienen wird, dass Wasserstoff und Sauerstoff, aus denen es besteht, entweder zusammen oder getrennt verwendet, eine unerschöpfliche Quelle für Wärme und Licht sein werden, und zwar von einer weit grösseren Kraft als Kohle sie besitzt. Die Bunker und Schiffe und die Tender der Lokomotiven werden an Stelle von Kohle diese beiden kondensierten Gase speichern, die in den Kesseln mit enormer Wärmeentwicklung brennen werden... Ich glaube dass wir mit Wasser heizen, und uns wärmen werden, wenn die Kohlelager erschöpft sind. Wasser ist die Kohle der Zukunft.“

Die ACCADEMIA ACQUA ist nicht ein weiterer Beitrag zur modisch gewordenen Diskussion um Wasser, sondern will die vorhandenen Bemühungen zu Wasser aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur integrieren und dies an einem konkreten Ort fokussieren und sichtbar machen: vom Wasserschloss Europas aus. Im ersten Jahr, 2002, stand die Bereitstellung von Grundlagen im Vordergrund: Kartierungsarbeiten im Quellgebiet aller hier entspringenden Flüsse und der Dialog mit den Stakeholders rund um das Wasser.

Diese Grundlagen wurden kontinuierlich aufgearbeitet und weiterentwickelt. Sie bilden eine wichtige Voraussetzung für die ACCADEMIEN der folgenden Jahre.

Mitberücksichtigt wird die Physiognomie der Kultur: grundlegende Raum- und Zeitvorstellungen, Wertkomplexe, Kultur und Riten, Religion, Kunst und Wissenschaft. La Claustra will – als Summe von forschenden Wissenschaftlern und Künstlern – damit Wasser nicht nur als chemisch-technisches Problem thematisieren, sondern auch durch eine Erkenntnisformen, die neben positiven Wissens auch auf die Kraft der Imagination und der Erscheinungsformen des Wassers selbst vertraut: in der Form von „Wassergeschichten“ sollen neue Sehweisen und Erkenntnisse gefunden werden.

Insofern beginnt La Claustra auch das Wagnis, nicht nur Wissen über Wasser, sondern auch das Vermögen zu entwickeln, dieses Wissen zum Material von Vorstellungen zu machen.