2018 Kultur kennt Gefühle, die Natur nicht (1)

Zum Thema Affektstrukturen (Text zuhanden einer Buchpublikation)

 

Zorn, Furcht, Ekel, Trauer, Angst, Wut, aber auch Überraschung und Glück gehören zu den Elementar-Emotionen (2) des menschlichen Organismus.
Wie sie erlebt werden, wodurch sie motiviert sind und wie sie sich konkret manifestieren, scheint historisch wandelbar. “Kulturelle Techniken und Habitus haben sich um den Körper gelegt oder sind gar in ihn eingedrungen.” beschreibt Hartmut Böhme den Umklammerungsprozess von Kultur mit Natur(3). Jede Kultur entwckelt darin ihr entsprechendes normatives Vokabular welches im Rahmen von Sozialisationsprozessen verinnerlicht wird.

So besass etwa Europas Mittelalter in den Konzepten von Schuld und ewiger Verdammnis mächtige Energieressourcen der Verängstigung, welche jedoch durch das Stabilsierungsmoment des christlichen Heilsplans kanalisiert werden konnten.
Mit dem Abdanken der Religion als Begründungsinstanz änderte sich dies und das ehemals allumfassende Werte- und Ordnungssystem verlor seine Funktion als normative Agentur der Angstbearbeitung. “Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkt weg – wohin? In’s Nichts? Ins durchbohrende Gefühl seines Nichts?” (4)

In der westlichen Kultur des 21. Jt. sind die Elementar-Emotionen im Gegensatz zu mittelalterlichen Konzepten nicht mehr in einen stabilen metaphysischen rsp. moralischen Rahmen eingebettet, sondern werden als (letztlich kontingentes) Resultat eines permanenten Normalisierungsgeschehens über fortlaufende Evaluationen von Norm und Abweichung immer wieder neu ausgehandelt. Exemplarisches Beispiel hierzu ist der Umgang mit Sexualität.

Scheinbar befreit von dogmatischen Verpanzerungen stellen wir uns heute die Frage nach der Grundbefindlichkeit unserer Elementar-Emotionen. Sind sie Grundbestandteil biologischen Seins oder sind sie sozio-kulturelle Produktionen?

Es stellt sich also die Frage, ob und wie Emotionen durch biologische Faktoren bedingt sind, ob es also so etwas bei ein biologisch definiertes Affektprogramm des Menschen gibt oder bestehen die Gefühlsurteile aus erlernten Kategorien und Mustern ?
Während die erste Argumentationslinie sich seit dem 19. Jt. in den Diskurs etabliert hat (universalistischer Ansatz), entwickelte sich durch Erkenntisse aus der Psychoanalyse und der ethnologischen Forschung eine konträre Position (kulturrelativistischer Ansatz).

Die erste – letztlich auf Darwin zurückgehende – Argumentatsionslinie ist der Ansicht, dass Affektprogramme des Menschen in erster Linie durch biologische Faktoren bedingt sind. Basisprogramme wie Wut, Abscheu, Furcht Trauer, Scham oder Schuld würden somit der Natur und der Triebnatur des Menschen zugeschrieben.

Die andere Position geht davon aus, dass auch das innere Erleben des Menschen mittels zu Gefühlskonventionen geronnen kulturellen Vermittlungsprozessen eingeübt, also durch Sozialisation erworben sei.

Der Realität am nächsten kommt wohl die Kombination beider Ansätze: universelle biologische Prädispositionen und kulturspezifische, erlernte Modifikationen, welche sich dann in Gefühlskonventionen äussern, aber eine gewisse Elastizität aufweisen, mithin mutierbar sind.

Fallbeispiel modifizierter Triebstruktur

Der amerikanische Kulturanthropologe Renato Rosaldo beobachtete in den 1970er Jahren bei einem philippinischen Stamm von Kopfjägern, dass der Verlust eines Angehörigen stets ein beinahe körperliches Bedürfnis nach einer Kopfjagd ausgelöst habe. Mit dem Wegschleudern eines abgeschlagenen Kopfes eines Opfers hätte sich ihre Verzweiflung danach immer auch verflüchtigt.

Dieser physische Drang zur Kopfjagd legte sich interessanterweise nach der Bekehrung zum Christentum, insbesondere zu den Aktivitäten der in dieser Region aktiven Pfingstgemeinden. Gemeinsames Gebet, das “Reden in Zungen” als Erkennunsgzeichen des Erfüllt-Seins durch den Heiligen Geist, ekstatisches Singen und andere Techniken des Gefühlsmanagements transformierten das innere Erleben von Trauer und Wut (5).

Jede Gesellschaft scheint offenbar spezifische kulturelle Techniken bereitzustellen, mit deren Hilfe Empfindungen gemanagt werden. Solche manipulatorischen Mechanismen findet man exemplarisch in den Disziplinierungsmassnahmen kolonialzeitlicher Unternehmen, mittel denen einheimische Zwangsarbeiter unter Androhung von Strafe und Foltermethoden sich der kolonialen Arbeitskultur zu unterziehen haben (6).

Kunst und Philosophie modellieren die gesellschaftlich definierten Ausdrucksformen und hellen deren Latenzbereich auf – was nicht zuletzt auch zur Darstellung des Schattens dessen führt, was eine jeweilige Kultur als Konsens bereitzustellen in der Lage ist.

Das pejorativ aufgeladene Erscheinungsbild des “Fremden” produziert Wut.

Alle Gesellschaften stellen spezifische kulturelle Techniken bereit, mit deren Hilfe Empfindungen modelliert werden können, sei es in Form von Unterdrücken, Überwinden, Verschieben, Fokusssieren, Verdrängen usf. Vormoderne Gesellschaften lassen der Individualisierung wenig Spielraum. Die sozialen Kontrollen rsp. die sozialen Bestätigungen und Rückversicherungen blieben ausserordentlich dicht.

In modernen Gesellschaften wird einerseits das entsprechende Handlungspotenzial breiter, kann aber auf institutioneller Ebene, insbesondere in Firmenkulturen wiederum rigoros kanalisiert werden (z.B. Bank- und Finanzwesen, Dienstleistungssektoren usf.).
Hier setzt sich die Verschränkung von wirtschaftlichen Interessen und Disziplinierungsmassnahmen aus der Kolonialzeit in subtiler und vor allem intrapunitiver Weise fort. Physische Repression und Gewaltanwendung sind psychischen und internalisierten Unterdrückunsgmustern gewichen, sind äusserlich zumeist viel weniger sichtbar, in ihren Folgen aber nicht minder verheerend. Die Aussenverankerung wurden abgebaut, die inneren Spannungen dagegen verschärft.

Auch wenn es in einzelnen Kulturen für die heute bekannten emotionalen Kategorien keine Worte gibt, kann das nicht zwingend bedeuten, dass diese unbenannten Gefühlszustände nicht auch eine Bedeutung hätten.
Erst ein interdisziplinäres Vorgehen von Psychologie, Ethnologie, Linguistitik und anderen Disziplinen kann mögliche analytische Kategorien finden, um dem Phänomen näher zu kommen.

Die traditionellen und nicht-westlichen Kulturen dieser Welt sind religiös geprägt. Was moderne (westliche) Gesellschaften als Preis für ihre funktionale Differenzierung all ihrer Teilbereiche einhandeln, ist der Preis der fehlenden Transzendenz. Andere Kulturen haben der rational- westlichen Welt diese Erfahrung voraus, rsp. behalten können.
Einher mit dem Beginn der Aufklärung ging der Deutunsgverlust der Religion, allerdings kompensiert mit dem Gefühl, dem Rest der Welt überlegen zu sein.

Hier sei nochmals an die “Kolonialgreuel” erinnert. Mit Waffengewalt – und dies bis in die jüngste Vergangenheit rsp. Gegenwart – hat die westlich-rationale Welt ihr Credo weltweit zu verankern gesucht. Wer sich dieser rational begründeten westlichen Welt entgegenstellt, wird rasch als “Böse” gebrandmarkt und begründet gerade dadurch weitere Interventionen.

Die Folgen alleridngs sind weltweit Destabilisierungen und nicht die propagierten vermeintlich neuen rational geprägte Ordungsstrukturen.

Anmerkungen

(1)
Nach einem Untertitel von Hartmut Böhme im Tagesspiegel vom 12.01.2005 https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-meer-peitschen/576722.html

2
Ekman, 1984 nennt sechs Elementar-Emotionen: Überraschung, Glück, Zorn, Furcht, Ekel, Trauer; Ekman, P. & Scherer, K. R. (1984). Questions about emotion: An Introduction.

Der portugiesische Neurowissenschafter Antonio Damasio hat die beiden Schlüsselbegriffe „Emotion“ und “Gefühl” vor dem Hintergrund der modernen Neurobiologie wie folgt definiert:Programme für Handlungen. Ergänzt werden diese Handlungen durch ein kognitives Programm, zu dem bestimmte Gedanken und Kognitionsformen gehören; die Welt der Emotionen besteht aber vorwiegend aus Vorgängen, die in unserem Körper ablaufen, von Gesichtsausdruck und Körperhaltung bis zu Veränderungen in inneren Organen und innerem Milieu dagegen sind zusammengesetzte Wahrnehmung dessen, was in unserem Körper und unserem Geist abläuft, wenn wir Emotionen haben. Was den Körper betrifft, so sind Gefühle nicht die Abläufe selbst, sondern Bilder von Abläufen; die Welt der Gefühle ist eine Welt der Wahrnehmungen, die in den Gehirnkarten ausgedrückt werden.”

„Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Gefühl sich zusammensetzt aus einem geistigen Bewertungsprozess, der einfach oder komplex sein kann, Reaktionen auf diesen Prozess“ (...). – „Nach meiner Ansicht liegt das Wesen des Gefühls in zahlreichen Veränderungen von Körperzuständen, die in unzähligen Organen durch Nervenendigungen hervorgerufen werden.“

Damasio Antonio, The Strange Order of Things. Liefe, Feeling and the Making ocf Culture, Pantheon Books New York 2007 (Dt.: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur)

3
Böhme 2003, 31

4
Nietzsche 1980, 404 Zur Genealogie der Moral 1887

5
Zitiert in:
Koch Lars (Hrsg.), Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Springer 2013, p. 73 f. Siehe auch Renato Rosaldo, Ilongot Headhunting: 1883-1974: A Study in Society and History (1980) and Culture and Truth: The Remaking of Social Analysis (1989).

6
Siehe hierzu u.a. die Berichte von Roger Casement 1903 bei der Aufdeckung der Kongogräuel im Roman von Mario Varga Llosa, El Sueno del celta (Deutsch: der Traum des Kelten, Suhrkamp 2011)

Literatur:

Ariès Philippe, Geschichte des Todes, München 1982

Böhme Hartmut, Zur Kulturgeschichte der Angst und der Katatstrophe. In: Anne Fuchs/Sabine Strümper-Korb (Hg.) Sedimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte der Literatur des Affektiven von 1770 bis heute, Würzburg 2003, p. 27–44

Damasio Antonio, The Strange Order of Things. Life, Feeling and the Making of Culture, Pantheon Books New York 2007 (Dt.: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur)

Ekman, P. & Scherer, K. R. (1984). Questions about emotion: An Introduction Elias Norbert, Über den Prozess der Zivilisation 1939


Foucault Michel, Sexualität und Wahrheit 3: Die Sorge um sich, Ffm 1986
Koch Lars (Hrsg.), Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Springer 2013, p. 73 f.

Llosa Mario Varga, El Sueno del celta (Deutsch: der Traum des Kelten, Suhrkamp 2011)

Luhmann Niklas, Verständigung über Risiko und Gefahren, in: N.L. Die Moral der gesellschaft Ffm 2008, p. 348–361

Luhmann Niklas, Funktion der Religion, Ffm 1977

Nietzsche Friedrich, Zur Genealogie der Moral (1887)

Rosaldo Renato, Ilongot Headhunting: 1883-1974: A Study in Society and History (1980) and Culture and Truth: The Remaking of Social Analysis (1989).