1995 PASSGÄNGE, DURCHSTICHE, MARSCHHALTE

MURMELNDE ERINNERUNG

NZZ Folio 4. Juli 1995

 Der Gotthard ist, was man aus ihm macht. 

Höchster Berg der Welt 
«Sankt Gotthard, Gebirgsstock in der Kette der Zentralalpen, im engeren Sinne jene Einsattelung (Pass 2114 m) zwischen Airolo und Andermatt, über welche die Gotthardstrasse führt. Den Römern war das Gotthardgebirge bekannt, doch scheint von ihnen der Pass nicht benützt worden zu sein. Seit der Mitte des 13. Jh. treten die älteren Namen des Gotthardmassivs: Elvel, Elvelinus, Ursernberg, und des Passgebietes: Tremola, vor dem Namen des Hospizheiligen St. Gotthard zurück.» Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz, 1931) 

Die Vorstellung, der Gotthard sei der höchste Berg der Welt, geht auf Julius Cäsar zurück. Er hielt die Lepontischen Alpen (und damit das Gotthardmassiv) für die höchsten Erhebungen in den Alpen. Diese lateinische Vorstellung über den Gotthard blieb während vieler Jahrhunderte unangefochten.

Einen Berg namens Gotthard hat es allerdings nie gegeben. Eine Kirche auf der Passhöhe wird gegen Ende des 12. Jh. zu Ehren des kurz vorher kanonisierten heiligen Godehardus (Bischof von Hildesheim) eingeweiht. Der Gotthard ist damit einer der jüngsten Pässe überhaupt. Er verdankt seine Entstehung der wachsenden Binnenkolonialisierung der Alpentäler und dem internationalen Handel im 13. Jh. Dennoch ist gerade dieser alpine Übergang am meisten von Geheimnissen umwittert geblieben. Weder über die Anfänge des Passverkehrs noch über die verkehrstechnisch heikle Passage der Schöllenen gibt es gesicherte historische Quellen. Dieser Mangel an Fakten hat immer wieder Phantasien und Spekulationen freigesetzt. 

«Der Gotthard ist zwar nicht das höchste Gebirge der Schweiz, und in Savoyen übertrifft ihn der Montblanc an Höhe um sehr vieles; doch behauptet er den Rang eines königlichen Gebirges über alle andere, weil die grössten Gebirgsketten bei ihm zusammenlaufen und sich an ihn lehnen. (. . .) So befindet man sich hier auf einem Kreuzpunkte, von dem aus Gebirge und Flüsse in alle vier Himmelsgegenden auslaufen.» (Johann Wolfgang Goethe in einem Brief vom 13. November 1779 aus der Schweiz)  


Wasserschloss
In einer Matrix von 20 auf 20 km entspringen am Gotthard die Flüsse Rhein, Rhone, Reuss und Ticino. 
Die Vorstellung von einer «Zitadelle» oder vom «Dach Europas» prägte die Wahrnehmung des Gotthards: In felsigem Massiv entspringen Flüsse in die vier Himmelsrichtungen, die Luftmassen des Kontinents prallen aufeinander, verschiedene Sprachen und Kulturen begegnen sich. Ein Paradox: ein Mittelpunkt als Grenzraum. Der Gedanke, dass man hier an einem Scheideweg stehe und der nächste Schritt etwas Bedeutungsvolles wie Unwiderrufliches in sich schliesse, wurde in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder aufgegriffen und kolportiert; ebenso die Idee des «unschlüssigen Wassers», das aus Zufall den Weg zur Nordsee oder zum Mittelmeer findet. 

«Gotthard, Wiege der Wasser! Nach Süd und Nord, gegen Aufgang und Niedergang donnern sie dahin, jene jungen Ströme, die Reuss, der Tessin, der Rhein, die Rhone, und reissen den gewaltigen Stern ihrer Täler in das Gefüge der Alpen. Wenige Meilen, ja wenige Schritte oft, liegen die dunkeln, klaren Bergseen, die leuchtenden Firne und Gletscher auseinander, denen sie entspringen. Die Kante eines Steines entscheidet, ob ein Quell hinabfliesse in das ewigblaue Thyrrhenische Meer oder mitternachtwärts in die Nordsee. Ein Geissbub, der seinen Durst am Gletscherbache kühlt, fängt vielleicht in seinem Hut - vergleichbar einem Riesenkinde der Vorzeit - die ganze junge Rhone ein und bringt, wenn er den Rest des Wassers verschüttet, den jungen Rhein zum Überfluten.» (Eduard Renner, Goldener Ring über Uri, 1941) 

Durchbruch
An den 5 Tagen zwischen Gründonnerstag, 13. April 1995 und Ostermontag, 17. April 1995 durchfuhren insgesamt 128 932 Fahrzeuge den Gotthardstrassentunnel (6765 mehr als im Jahr zuvor). An den beiden Tagen Gründonnerstag und Karfreitag staute sich der Verkehr vor dem Nordportal während 32 Std. und 46 Min. auf einer Länge von bis zu 15 km und am Ostermontag und -dienstag vor dem Südportal während 21 Std. und 55 Min. auf einer Länge von bis zu 10 km. Unfälle im Tunnel waren keine zu verzeichnen. 

Als die Meere schon längst alle befahren wurden, waren die Alpen immer noch weitgehend Terra incognita. Die Grenzen der Täler blieben gleichbedeutend mit den Grenzen der Welt. Erst die Begehbarmachung der Anhöhen mittels Pässen eröffnete die Möglichkeit, diese Grenzen zu überschreiten.

Der Gotthard und seine eigentliche Charakteristik als kürzester Alpenpass wird erst dank der technologischen Entwicklung bedeutsam. Der «Stiebende Steg«, eine rund 60 Meter lange, mit Querhölzern versehene und an Ketten aufgehängte Brücke über der Schlucht in der Schöllenen bei Andermatt war noch eine behelfsmässige und materialaufwendige Konstruktion, teuer im Unterhalt und für Pferde wenig geeignet. Einen ersten Durchbruch - den ersten Tunneldurchstich in den Alpen überhaupt - bildet das «Urnerloch« vor Andermatt zu Beginn des 18. Jh. Damit wird der Postverkehr mit Pferden möglich. Später erlaubt der Eisenbahntunnel eine wachsende Kapazität: er kann Güter wie Personen gleichmässig und während aller Jahreszeiten befördern. Wieder 100 Jahre später macht der Strassentunnel den Individualverkehr unabhängig von Jahreszeiten und Fahrplänen, und zu Beginn des dritten Jahrtausends meistert die Neat - die Neue Eisenbahn-Alpentransversale - als Flachbahn den Berg dann vollends. 

«Die Endsumme des Ortswechsels setzt sich aus einer Unzahl von Wiederholungen zusammen; jeder neue Augenblick scheint den andern zu erzeugen, dass man niemals ankommen werde . . . Vielleicht sind Ewigkeit und Hölle naive Ausdrücke für irgendeine unvermeidliche Reise?» (Paul Valéry, La soirée avec M. Teste, 1896) 

Neuzeit 
1977 wird mit einem Budget von 300 000 Franken der 220 Tonnen schwere sogenannte Teufelsstein in Göschenen um 127 Meter verschoben. Er lag direkt auf dem Trassee der projektierten Gotthardautobahn. 

Mit der schrittweisen Eroberung der Berge beginnt in Europa die Neuzeit. Die Menschen nehmen von den heiligen Bergen Abschied, von den Sitzen der Götter, den Orten von Geistern und mythischen Ereignissen. Statt dessen finden sie Erze, Silber, Gold, schnellere und sichere Verkehrswege. Im Laufe des Zivilisationsprozesses werden die Vorstellungen über die Natur zunehmend entseelt, entmythologisiert, entsakralisiert - zu entsprechendem Preis: Dem Gewinn an technikvermittelter Autonomie steht der Verlust der Bedeutsamkeit der Natur gegenüber.

Ganz am Rande, sozusagen als Erinnerung an die alten Sitze der Götter, finden sich noch vereinzelte Orte des Traumes und der Imagination. Sie leben fort in den Phantasien der Menschen, tauchen in der Kunst wieder auf. 

«Was die Heiden von uns unterscheidet, ist jene ungeheure, am Ursprung all ihrer Glaubensformen unternommene Anstrengung, nicht vom Menschen aus zu denken, um die Verbindung mit der ganzen Schöpfung, das heisst mit der Gottheit, zu erhalten.» (Antonin Artaud, Héliogabale ou l'anarchiste couronné, 1934) 


Überlagerungen 
Die Faltung der Alpen als Folge des Gegeneinanderschiebens tektonischer Platten ist ein Prozess, der vor rund 200 Millionen Jahren begonnen hat. Der Zusammenschub der nördlichen, eurasischen, und der südlichen, afrikanischen, Deckenplatten ging zuerst in der Verborgenheit des Meeres vor sich. Vor rund 40 Millionen Jahren erhob sich dann aus dem Boden des Meeres langsam ein Gebirge. Auch wenn dieses heute durch Erosionen laufend wieder abgetragen wird, erhöhen sich zahlreiche Bergspitzen weiter - um bis zu 15 Millimeter jährlich. 

In dem, was in vielfältigen Dokumenten über den Gotthard gesagt worden ist, kommen die Menschen praktisch nicht vor, höchstens in untergeordneter Stellung, als Attribute des Berges. Zahlreich sind jedoch die Dokumente, in denen von der Bewegung der Natur die Rede ist, von der fortwährenden Auseinandersetzung mit den Kräften der Gebirge und Schluchten, starr und schroff, verwandelt einst unter hohen Temperaturen und hohem Druck: erst Meeresboden, dann von Gletschern poliert.

Doch die Gegensätze der Elemente tragen für jene, die in ihnen leben, nichts Verlockendes in sich. Ihre Macht ist eher erdrückend. Der überhöhte Blick kommt von aussen - erst die Sprache der Flachlandbewohner bricht das Schweigen der Menschen im alpinen Raum; sie dringen in die einsamen Klüfte ein, bewegen sich, so wie die Erde selbst Platten gegeneinanderschiebt, die sich zu Türmen aufschichten. Durch solche Überlagerungen aus weit entfernten Tiefen haben die Alpen Gestalt angenommen. 

«Ich befand mich also auf dieser schwindlichten Höhe, wie in einer andern Welt, in der sich alle Vorstellungen und Eindrücke des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Künsteleyen und der Annehmlichkeit des häuslichen Glücks verliehren, und dagegen die kahle und rohe, aber erhabene und grosse Natur vorher nie empfundene Gefühle von der Grösse und Erhabenheit des Schöpfers, zugleich mit einer angenehmen Schwermuth jedem denkenden Wesen einflössen.» (Hans Rudolf Schinz, 1783 auf dem Gotthardpass) 

Verdrängung 
Der erste Alpentunneldurchstich der Welt, das «Urner Loch» um 1707 am oberen Ende der Schöllenen, eröffnete dem Pass seine Dynamik. Der Tessiner Baumeister Pietro Morettini sprengte im Auftrag von Uri oberhalb der Teufelsbrücke einen Tunnel von 60 m Länge, 2,2 m Breite und 2,5 m Höhe durch den Felsen. Die Tremola mit ihren 24 Haarnadelkurven wurde um 1830 gebaut. Erst zu diesem Zeitpunkt war die Passstrasse nun so weit ausgebaut, dass sie mit bespannten Fuhrwerken passierbar wurde. Zuvor waren die transalpinen Fahrstrassen am Brenner (1772), am Simplon (1805) und am Mont Cenis (1810) eröffnet worden. 

Eine Dynamisierung von Arbeitsethik und Technik und damit der Beginn der Neuzeit geht keineswegs erst vom Protestantismus bzw. Calvinismus aus, sondern bereits vom Mönchstum, insbesondere von einzelnen Klöstern. Benediktiner und Zisterzienser befreiten die Arbeit von ihrem jahrhundertealten Makel, Folge des Sündenfalls und also Zwang zu sein. Arbeit wird zur Fortsetzung des göttlichen Schöpfungshandelns. Die Benediktiner kolonialisieren die Bergtäler, wie sie auch Wegbereiter der Berg- und Wasserbautechnik sind.

Walser bewirtschafteten das vom (Benediktiner-) Kloster Disentis zu Lehen gegebene Urserental. Offensichtlich gingen von hier auch Impulse aus, die traditionelle Ost-West-Achse (Oberalp-Furka) durch einen Vorstoss nach Norden zu ergänzen. Dabei wird die von ihnen für die Bewässerung verwendete Kanalbautechnik auch für die Begehbarmachung der Schöllenen eingesetzt: im «Stiebenden Steg». Damit wird nicht nur ein Verkehrsweg erschlossen, sondern auch ein epochaler Wandel eingeleitet.

Die Begehbarmachung der bis ins 13. Jh. unpassierbaren Stelle ist ein kulturgeschichtlicher Ausdruck des gewandelten Verhältnisses im Umgang mit der Natur. Natur wird von den Dämonen befreit und inskünftig ohne moralische Bedenken als Objekt der Vernunft und der Beherrschung zugeführt. In diesem Wandel, der in dieser Epoche in ganz Europa beobachtbar ist, nimmt der Bergbau eine Pionierrolle ein. Auch im Kanton Uri wurde zwischen dem 14. und 18. dem Jh. Erzabbau betrieben: Alaun, Eisenerz, Kupfer, Bleierz und Silber. Vor allem der Eisenabbau war nicht unbedeutend: Eine Konzessionsurkunde aus dem Jahre 1576 verpflichtete beispielsweise Hans Jakob Madran und Caspar Romanus Bässler, nicht mehr als 25 fremde Bergknechte zu beschäftigen. 

«Die theologische Deutung der Naturbeherrschung mit dem eschatologischen Ziel der Wiedergewinnung des Paradieses ist die Quelle jenes Technik-Traumes, der das künstliche Paradies zum Heilszweck technischer Entwicklung erklärt. In einer vollständig technisch angeeigneten Natur stünde der Mensch erneut in einem so vollendeten Rapport zu seiner Umwelt, wie er es einst vor dem Sündenfall im Garten Eden tat.» (Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, 1988) 

Gehen im Schnee 
Bis Ende des 19. Jh. war der Gotthardpass das ganze Jahr über begehbar, sommers wie winters, und er blieb während kaum mehr als 8 Tagen im Jahr geschlossen. 

Die Unterhaltspflicht der Passstrasse lag bei den Säumerorganisationen. Scheuchzer beschreibt, wie Ochsen über die schneebedeckten Strassen getrieben wurden, Balken zogen und damit den Schnee beiseite schafften.

Im 18. Jh. traversierten nach Berechnungen, basierend auf den Eintragungen im Hospiz, jährlich 15 000 bis 16 000 Personen (ohne Säumer) den Pass. Davon waren etwa 4000 bis 5000 Handwerker aus dem Süden, die nördlich der Alpen Arbeit suchten, und rund 5000 Kaufleute und Wallfahrer.

Heute ist der Pass nicht an 8 Tagen, sondern während über der Hälfte des Jahres geschlossen (in der Regel von Ende Oktober bis Anfang Juni), obwohl als Nationalstrasse ausgebaut und mit Tempo 80 befahrbar. Während der rund 170 Tage aperer Strasse machen über 500 000 Autos, Lastwagen (vor allem mit hochexplosiven, nicht tunnelfähigen Materialien) und Töffs davon Gebrauch. 

«Die Schneestürme blenden uns, um uns das Gehen zu lehren, das Gehen mit gesenktem Blick, den Schritt in die Fussstapfen des Vorderen. Es gibt keine Wege, es gibt nur die Fährten des Windes auf dem Schnee.» (Tagebuchnotiz Hospiz, Winter 1985/86) 

Ingenieure 
Im 19. Jh. versuchte man mit unzähligen Konzepten, die Naturgewalten in ordnende Bahnen zu lenken. Ein neuer Menschentyp, der Ingenieur, formulierte kühne Projekte und veränderte innerhalb kurzer Zeit die Verkehrssysteme, die zuvor während Jahrhunderten stets gleich geblieben waren. Strassen- und Bahnsysteme wurden entworfen und gebaut. Spektakulärstes Projekt war ein Alpen-Schifffahrtskanal vom Lago Maggiore durch das Bleniotal über Disentis, den Krüzlipass und das Madranertal zum Vierwaldstättersee - eine Anlage mit unzähligen Schleusen, Tunnels und Röhrenkanälen, die dann nicht gebaut wurde. 

Die Sage von der Teufelsbrücke berichtet, der Teufel habe die Brücke innerhalb von kürzester Zeit erstellt und als Entgelt die Seele des ersten Benützers gefordert. Die schlauen Bergler hätten ihm daraufhin einen Ziegenbock hinübergejagt, was der erboste Teufel mit dem Wurf eines riesigen Felsbrocken beantwortet haben soll.

Historisch betrachtet, schlummerte der Pass während Jahrhunderten dahin. Erst seit dem 18. Jh. entwickelte sich diese Verkehrsachse in markanter Weise und wurde zu einem Prototyp des technischen Fortschritts: vom ersten Tunneldurchstich in den Alpen bis vielleicht zum längsten Eisenbahntunnel der Welt. 

«Die Lokomotive hat sich durch Fels und Schrund einen Weg gebrochen in die entlegensten Thalschaften und trägt schon der Güter reiche Menge zwischen den gemächlich weidenden Kuhherden hindurch über stille Alpen. Schon steht der spekulative Ingenieur auf den Zinnen der drohendsten Gletscherberge und berechnet das wahrscheinliche Wachsthum der luxuriösesten Bedürfnisse des Volkes.» (Rudolf von Tavel, 1891) 

Réduit 
Dem neuen Bundesstaat fehlten vorerst die Konzepte wie der politische Wille für eine Gesamtverteidigung. Obwohl es nie an Plänen fehlte, wird erst die neue Gotthardbahn zum Auslöser für Befestigungsanlagen. 1885, drei Jahre nach der Tunneleröffnung, wurde ein Kredit von 2,67 Millionen Franken bewilligt, um eine ursprünglich geplante totale Landesbefestigung an der Südfront, am Gotthard, in Angriff zu nehmen. Mangelnde Erfahrung, Koordinationsprobleme der Bauunternehmen, technischer Wandel, unzählige Planänderungen und schlechte Witterung führten schon damals zu einer beträchtlichen Fehleinschätzung der Kosten: Die Schlussabrechnung der Gotthardbefestigungen im Jahre 1894 lautete auf 12,66 Millionen Franken. Gesamtschweizerisch gesehen blieben die Anlagen ein partielles Befestigungswerk, und erst 1944 sollte ein umfassendes Landesverteidigungssystem verwirklicht sein. 

Im Gefolge wachsender verkehrsstrategischer Bedeutung des Territoriums wächst auch die militärstrategische; sie dient in erster Linie immer der Sicherung der Verkehrswege. Die Befestigung des Gotthards blieb umstritten, und erst während des Zweiten Weltkrieges prägte sich das Réduit dann als Symbol des Widerstandes gegen jede Form fremder Einmischung ein.

Die Vorstellung eines unterirdischen Rückzugsterritoriums blieb als einprägsames, geradezu mythisches Bild weit bedeutsamer als die Zahl der vorhandenen Befestigungsanlagen und die Feuerkraft der Kanonen. Im übrigen passierte ein wesentlicher Teil des Verkehrs zwischen den Achsenmächten Deutschland und Italien jenen Durchgang, dessen Schutz sich das Militär besonders angenommen hatte: den 16 Kilometer langen Eisenbahntunnel. 

«Unser System von Alpenstrassen, das vom Lande so grosse Opfer verlangt hat, liegt jetzt dem Feinde ebenso offen zur Benutzung da wie uns selbst. Nur geeignete Befestigungen sind imstande, fremde Truppen davon auszuschliessen und ausschliesslich uns den Durchgang zu gewähren.» (Oberst Hermann Siegfried, 1873) 

Erinnerung 
Auf dem Gotthardhospiz, auf 2108 m ü. M., steht während 4 Monaten im Sommer Europas höchstgelegenes Museum, das Museo Nazionale del San Gottardo, dem Publikum offen. Während den übrigen 8 Monaten liegt es unter Schnee. 

Die Vorstellung «Gotthard» wandelte sich stets. Dieser «Berg» umreisst in seiner Geschichte zahlreiche Facetten eines Landes, welches letztlich über keine natürliche Basis nationaler Identität verfügt: «Gotthard» als Inbegriff des Europäischen, als Ausdruck der vermittelnden und heilenden Schweiz, einer modernen, industrialisierten Schweiz, einer wehrhaften Schweiz. Die Ideologisierung dieses Territoriums im 19. Jh. zwecks Aufbaus der staatspolitischen Identität des neuen Bundesstaates hat diese vielfältigen und historisch oftmals älteren Erinnerungen teilweise vergessen lassen. Selbst der Fels hat von Menschenhand Geschaffenes kommentarlos einverleibt: etwa die paar hundert Quadratmeter russisches Territorium, die das Suworow-Denkmal beherbergen, in friedlichster Nachbarschaft zur 200 Meter weiter westlich gelegenen Festung namens Teufelswand, diese im Besitz der Schweizer Armee.

Heute sind die Erfahrungen musealisiert und in Vitrinen zugänglich gemacht. Das Geheimnis der Berge scheint dem Menschen zwar unergründlich, ist aber dennoch immer wieder Teil seiner Erinnerungen geblieben. Erinnerungen haben immer auch den Sinn, das Vergangene im Gegenwärtigen sichtbar zu machen. Auch wenn der in der Historie vielfach beschworene Mythos heute eher verblasst erscheint, bleibt seine eigentümliche Faszination. Diese gehört letztlich in den Bereich der kollektiven Mythologien.

Der aufgeklärte Mensch gibt sich zwar als von den Mythen befreit. Dennoch - worauf etwa Karl Jaspers verweist - denkt der Mensch neben seiner naturwissenschaftlich geprägten Logik weiterhin auch mythisch. Aber klar erkennbare Riten und Plätze für Mythen fehlen; sie sind schwer erkennbar, gerade dann, wenn sie impliziter Teil eines rational orientierten Denkens sind. So murmeln die Mythen heute vor sich hin. 

«Im Leben der Kaiser gibt es einen Augenblick, der nach dem Stolz auf die grenzenlose Weite der eroberten Gebiete eintritt, nach Wehmut und Trost über das Wissen, das man bald verzichten wird, sie kennen und verstehen zu lernen; wie ein Leergefühl, das eines Abends von uns Besitz ergreift, gleichzeitig mit dem Geruch von Elefanten nach dem Regen und von Sandelholzasche, die in den Glutbecken erkaltet.

Das ist der verzweifelte Augenblick, da man gewahr wird, dass dieses Imperium, das uns doch als Summe sämtlicher Wunder erschienen war, ein Auseinanderfallen ohne Ende und Form ist.» (Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, 1974)

Jean Odermatt ist Künstler; er lebt in Eglisau. Seit 1983 beobachtet er den Gotthard und hat mehrere Winter dort verbracht. Sein «Gotthardprojekt» ist eine Summe von fotografischen Dokumenten, Künstlerbüchern, szenischen Ereignissen im Gelände und Projekten wie der «Prima Linea», einer Linie, die über 130 unterirdische Stationen das Hospiz und den Mailänder Dom verbindet.