1999 ENTLANG DEM SCHEIDEBLICK GEN SÜDEN

* Referat gehalten am forum alpenraum / interventionen Stams (Tirol) am 2.10. 1999 

PROLOG

Tagebuchnotiz 08. Februar                                          

“Es gibt Landschaften, die begegnen einem wie Persönlichkeiten. Sie üben eine Anziehungskraft aus, sie bewegen und sind doch nicht greifbar. Weder physische Anstrengung des Begehens noch kartografische Vermessung oder historische Mythen vermögen sie zu erobern. In steter Verhüllung fordern sie vielmehr Geduld, Hingabe und Konzentration heraus. Solange, bis die Intensität der Hingabe jenes Ausmass erreicht hat, in der durch die äussere Erscheinung hindurch – für Momente – das Gesicht der Landschaft erscheint.”

Reflexion I:

 Sehr verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer. 

Ich erzähle Ihnen etwas über meine Auseinandersetzung mit einer konkreten Landschaft in den Zentralalpen. 

Ich berichte vom langen Weg durch ein Land mit vielen Namen hin zu einem ganz konkreten Ort – von der Hingabe an eine vorerst unspezifische Anziehungskraft hin zu einer ganz konkreten, täglichen Arbeit.

Der Gotthard ist geografisch und verkehrspolitisch gesehen ein zentraler Alpenübergang, historisch ein reich befrachtetes Buch an Mythen und Legenden. 

Lässt man sich näher auf dieses Territorium ein, so stellt sich die Frage, wohin der Blick, 

die Gedanken heute schweifen. 

Ist es nur ein Ort des (schnellen) Übergangs oder einer des Verweilens an einem Mittelpunkt?

 Seit 1983 gehe ich dieser Frage nach, umkreise mit ihr die Landschaft des Gotthards, die mich seit meiner Kindheit magisch anzieht. 

Mittlerweile ist diese Anziehung längst zu einem Zentrum nicht nur meiner Bilder und Gedanken sondern auch all meinen Tuns geworden, auch wenn diese Hinwendung einem typischen Gang durchs Gebirge vergleichbar geblieben ist: entlang voller Tücken und Abgründe, inmitten von Lichtblicken wie unfassbaren Nebelzonen.

Mit Tagebuchsequenzen, Bilderfolgen und Reflexionen klinke ich nun in die Geschichte dieses Ortes ein, führen Sie durch ein Gebirge, das  für Julius Cäsar einst das höchste und für Johann Wolfgang von Goethe das königlichste Gebirge der Welt war. 

I

ÜBER DAS WANDERN ENTLANG  DEM HORIZONT

 

Tagebuchnotiz 22. Juli                                   

“ Mir scheint, es gibt einen Moment im Laufe des Tages,  an dem der Nachmittag sich in den Abend hineinwandelt. 

Es ist etwas, was nur hörbar ist: unmerklich tönt die Landschaft anders, ist getragen von einer werdenden Stille, 

so wie sich auch das Licht hinzulegen beginnt, milder gestimmt ist. 

Die Dämmerung macht deutlich, wie der Himmel den Grundton und den Grössenmassstab abgibt, der Hauptträger der Empfindung ist. “

Tagebuchnotiz 12. September 

 “ Nimmt man die Dämmerung wahr oder spürt man sie? 

Der Nachtschatten schiebt sich in die fahl verblassenden Reste 

der Gegendämmerung hinein. 

Kühle Distanz, 

die durch das Auge in das Herz hineindringt. “ 



Reflexion II:

Im Gegensatz zur mittelalterlichen Introversion, welche den inneren Himmel und die innere Hierarchie der Bilder als kosmologische Ordnung projiziert hatte, tritt mit der Neuzeit die Beobachtung und Registrierung der Aussenwelt in den Vordergrund: die Welt wird nun zur Datenbank.  

Der Mensch versteht sich fortan als "Sohn der Erde" und inskünftig sucht er den Geist dieser Erde. In der Wahrnehmung dieser Erde und ihrer Materialien finden sich nicht mehr die Daten der göttlichen Offenbarung, sondern jene der irdisch-menschlichen Empirie. 

Diese kopernikanische Wende ermöglicht erstmals die Entstehung eines Ich-Bewusstsein des  westlichen Menschen. 

Sie schafft die fundamentale Voraussetzung für individuelle Erfahrungen und setzt diese der bisherigen, kollektiv praktizierten Offenbarung gegenüber. 

Die Kernideologie der seit dem 16. Jt. praktizierten neuzeitlichen Zivilisationstheorie demonstriert, dass die Mangelausstattung des Menschen eine Anstrengung erzwingt, sein Dasein in der Welt zu einem dominium terrae auszubauen. Der ursprüngliche Leib der Natur (-> Himmelsland) wird nunmehr durch die Autonomie der Vernunft und den Zwang zur Naturbeherrschung (-> Erdland) dominiert.

Doch die Entdeckung der Erde geht einher mit dem Verlust des Himmels als Orientierungsachse. Heiliges und Profanes trennen sich und bleiben fortan getrennt.

Die moderne Wissenschaft orientiert sich nicht mehr an Symbolbegriffen wie Himmel und Erde, sondern an Systemen, d.h. an von Menschen geschaffenen instrumentellen synthetischen Welten. Nicht mehr sinnlich wahrnehmbare Erfahrung, sondern instrumentelle, experimentelle Exploration wird jetzt generiert. 

Das Denken setzt sich so auf Distanz zu den über die sinnlich erfahrenen Bilder.

In diesem "epistemologischen Bruch"  wie ihn Foucault nennt, wird das materielle Universum fortan nicht mehr als sprachliches, sondern als mathematisches, logisches Zeichen interpretiert. Dadurch wurden riesige Bestände an Erfahrungswissen ausgelöscht.  

Dieser Bruch ist einzigartig und singulär. Und seine Konsequenz ist weitreichend: Vormodernes Wissen des Naturumgangs wird irrationalisiert, in den Aberglauben, die Täuschung, den Schein, in den Irr- und Wahnsinn abgetrieben oder durch Diskursdifferenzierung in Literatur und Kunst abgeschoben.

Die Trennung von lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Erinnerungen zwecks Aufrechterhaltung von bestimmten Vorstellungen, die in der Praxis des Alltags anders nicht haltbar sind, bezeichnet die Psychoanalyse als "Verdrängung". 

Analog zu diesem Prozess, der sich im Individuum abspielt (und in der Regel auch nur dort thematisiert wird) sind aber auch in einer Kultur insgesamt Prozesse der Verdrängung sichtbar, die eben demselben Ziel dienen, nämlich Konsens sicherzustellen und Dissens zu eliminieren - hier nun allerdings auf der Ebene der Gesellschaft. 

So wie das Individuum sich emotional von den verdrängten Inhalten distanziert und diese zurückweist als nicht ihm zugehörig, so lagert auch eine Kultur ihr nicht genehme Themen aus, weist sie Ghettos zu, verstümmelt oder irrationalisiert sie.

Diese Verdrängungsleistung gehört zu den markantesten Erscheinungen der europäischen Zivilisationsgeschichte: die Durchsetzung des Profanwissens war verbunden mit einer intensiven Verdrängung des sakralkulturellen Naturumgangs.

Die verdrängten Wissensformen lebten (und leben) seither weiter in sozial irrelevanten Subsystemen (heute teilweise in Alternativszenen, in medizinisch umstrittenen Spezialformen, in latenten Omnipotenzphantasien des wissenschaftlichen Rationalismus oder aber in den Bilderwelten in Kunst und Literatur. 

II

VOM FISCHEN AUF DEM HOHEN BERG

 

Tagebuchnotiz 28. März                                             

“ Täglich wächst das Universum vor mir. Ich versuche alles zu beobachten, aufzunehmen. Doch je mehr sich mir eröffnet, um so weniger kann ich beschreiben, um so weniger kann ich reproduzieren. “

Tagebuchnotiz 04. November 

“ Der Fels vor mir starrt mich an. Oder starre ich ihn an? 

Alles Ursprüngliche hat ein doppeltes Gesicht: das eine schaut vorwärts, das andere zurück. Welche Wurzeln hat der Fels? “

 

Reflexion III:

Was ist Landschaft heute? 

Hat die Erde eine Sprache? Wie ist sie mir zu fassen?

Wissen war bis zur Renaissance Wissen von der Natur als physische Erscheinung und man verstand die Natur am eigenen Leib (von der der Mensch ja auch seinen Leib hat). 

Damit war eine Wechselbeziehung zwischen Mikro- und Makrokosmos bezeichnet und diese machte letztlich auch den heiligen Charakter des Wissens ausIm heutigen Verständnis der Natur, das Erde als profanes, totes Materieaggregat interpretiert, wird ein Rückgriff auf vorneuzeitliche Vorstellungsformen nurmehr als Projektion des eigenleiblich Gespürten auf die tote Materie empfunden, nur noch als Projektion auf Gesteine, Kristalle, Metalle. Die ursprünglichen Konzepte meinten dies jedoch just nicht, sondern gestanden ihnen durchaus Eigenleben zu und nahmen dies auch entsprechend.

Die postmoderne Weltinterpretation schliesst hier letztlich wieder an, wenn sie davon ausgeht, dass die Erde ohne den Menschen auskomme. Das ist letztlich ein radikales Eingeständnis einer Sackgasse: menschliches Bewusstsein wird zur inkomensurablen Grösse. Nietzsche hat dies in seinen Dionysos-Dithyramben bereits vorgezeichnet. Zwar tauchen diese ins Unbewusste abgedrängten Inhalte auch heute phasenweise wieder auf, sie gehen aber unbegriffen in das Szenario jener Wissenschaft ein, die das Unbewusste zum Gegenstand hat: in die Psychoanalyse.

Dabei zeichnet sich ein interessantes Phänomen ab: die psychonanalytischen  Konzepte folgen allesamt den Grundstrukturen des alchemistischen Wandlungsprozesses. Alchemistische Grunderfahrung wird zum Setting einer nunmehr profanen Therapie: Nur durch Regression und Wiederholung ist Heilung möglich. Damit geht Naturgeschichte in Subjektgeschichte über. Psychoanalytische Konzepte geben bezeichnendersweise vor, die "innere Erdseite" des Menschen wieder zu entdecken, während die Natur selbst nicht mehr angetastet wird, allenfalls noch als Projektionsfläche interpretiert wird.

Die Konsequenz ist längst spürbar geworden: Die Überwältigung durch Fakten und Daten, durch Spezialisierung und rasende Entwicklung neuer Partialitäten lässt jede bisherige umfassende (Welt-)Orientierung erodieren

III

ZUR PHILOSOPHIE DES VORMITTAGS

 

Tagebuchnotiz 15. März                                             

“ Der äusseren Zeit bin ich hier gänzlich enthoben, die Zeit der Menschen dringt nicht an mich heran. Die Zeit hier oben ist äusserst konkret, physisch erfahrbar in der täglich wechselnden Witterung. Der Tag besteht nur aus dem, was sich zwischen Himmel und Erde ereignet – und aus meinem Tun dazwischen. Die Dias sammeln sich zu einer Art Agenda, nur dass nicht Termine, Personen und Themen darin stehen, sondern allein die sich stetig wandelnde Beschaffenheit des Raumes. “

Tagebuchnotiz 16. November 

“ Nachdenken, bevor die Sonne wieder hinter der Lücke an der Fibbia verschwindet. Unser Bewusstsein ist von räumlichen Zeitvorstellungen geprägt: das Gedächtnis als umgrenzter Raum, die Erinnerungen als darin aufbewahrte Bilder, das Erinnern als Bewegung durch diesen Raum. “ 

Tagebuchnotiz 02. Oktober

“ Ich lese bei Wittgenstein: Man glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten. “

Reflexion IV:

Ein grosser Teil der Begriffe, in denen wir die Welt denkend erfassen, ist nur die abstrahierte Fortsetzung von Bildern. Bilder wie Begriffe spiegeln äussere wie innere Erfahrungen des Menschen wieder. Selbst Theologie, Astrologie und später die Naturwissenschaften geben vorerst Aufschluss darüber, was der Mensch als wirksam wahrnimmt.

Erfahrung des "Gegenstandes" ist immer bereits symbolische Erfahrung, denn jede Möglichkeit der Erfahrung setzt eine symbolische Aktivität voraus. Lange vor Heidegger formulierte bereits Goethe: " Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen lässt."

In der Diskussion der alten Polarität Materie-Geist ist heute vermutlich von einem Kontinuum denn von einem Gegensatz auszugehen. Der Mensch ist sozusagen Innen und Aussen bebildert.

Was uns in den Naturwissenschaften - sozusagen am einen, digitalen Ende der Wahrnehmung - als "Aussen" als Objekt begegnet, erscheint uns am andern, analogen Ende, sozusagen im Innern der Psyche, als Numinoses. Letzteres ist allerdings im Prozess der Aufklärung sukzessive den Fakten geopfert worden.

Goethe ist hierin ein aufmerksamer Beobachter. Er spürt, dass die Naturwissenschaften eigentlich gar nicht Natur zum Gegenstand haben - jedenfalls nicht im Sinne der aristotelischen physis, als dem vom Menschen nicht gemachten Bereich. Insofern das Experiment das zu Untersuchende herstellt oder konstruiert, ist es techné - Technik. Diese erzeugt kein Wissen von der Natur, sondern Herstellungswissen. 

Die heute noch praktizierte Antinomie zwischen Wissenschaft und Kunst ist ein Erbe dieses Differenzierungs – oder doch wohl präziser: Verdrängungsprozesses.

Die im Zeitalter der Renaissance ausgehende neue Wissenschaft ersetzte Erfahrung durch Konstruktion; damit trennten sich Wissenswelten und Erfahrungswelten. Mit dem exakten Wissen der Wissenschaft konnte die Kunst fortan nicht mehr Schritt halten. Die Kunst gewann als Bewahrerin von Lebenswelten zwar Konturen, galt aber mithin als Gegenprinzip zum aufklärerischen Geist der exakten Wissenschaften (etwa im Barock). Erst am Vorabend des 20. Jahrhunderts formulierte Nietzsche in seiner Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ programmatisch, ,die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen‘. (1872)

IV

VOM PROZESS DES SICH ERINNERNS

 

Tagebuchnotiz 18. April 

“ Der Raum ist ohne die Zeit nicht denkbar. Erst die Zeit macht den potentiellen Raum wirklich. Wenn die Zeit ein festes Mass hat, stammt sie von der Himmelsbewegung ab. Und in der Nacht scheint es, als würden die Sterne zum Erschaffer des Raumes. “

Tagebuchnotiz 24. April 

“ Was verändert sich, was bleibt? Zeit und Raum entstehen zugleich und sind also wohl eins, wie Subjekt und Objekt. Raum ist beharrliche Zeit – Zeit ist verfliessender, variabler Raum. “

Tagebuchnotiz 02. Mai 

“ Die zyklische Zeit fördert behutsam das Wesen der Welt zutage, macht die Spuren des Wachstums sichtbar, das Glatterwerden des Steins im Winde, die Zeichen des Alterns im Gras, das Siegel der Patina der Zeit. “

 

Tagebuchnotiz 05. Januar                               

“ Eine Phantasie: Beleben wir das Riesengebäude der Erinnerung, erzählen wir aus der fernen Zeit, berichten wir von lange nicht mehr gebrauchten Dingen! 

Ist die Welt zertrümmert, gibt es nurmehr die Erinnerung. “

 

Tagebuchnotiz 08. Oktober

“ Schnee überzieht die Horizonte, eine schnurgerade Linie verläuft den Höhenlinien des Geländes entlang. Die Berge verlieren ihre Namen, werden Räume, entwickeln Gesichter. “

Reflexion V:

Die Überzeugung von der Lebendigkeit der Natur erfüllte zwar noch alle neuzeitlichen Kulturen. Es sind aber Erfahrungen und Mysterien zugleich, wenn der Mensch in das Leben der Materien wissend eindringt. Diese Praxis lag über Jahrhunderte hinweg den Menschen nicht einfach zu Füssen. Heute scheint dies anders - zumindest äusserlich betrachtet: Das gesamte esoterische Wissen liegt bibliophil an der Kasse, das "Esoterische" gibt sich "exoterisch", d.h. das, was einst nur für ein paar wenige, Eingeweihte zur präzisen, sparsam eingesetzten Verwendung zur Verfügung stand, steht heute jederzeit und scheinbar für alle Aussenstehenden offen und allgemeinverständlich zugänglich. Das Innere ist äusserlich geworden.

Entwürfe wie "Interdisziplinär", "Interkulturell", "Dialog zwischen Ost und West" begleiten die wachsende "vernetzte", "globalisierte" Welt. Sie weisen zwar auf ein gespürtes Loch in den vorhandenen Perspektiven, suchen Anschluss an Verlorenes. Doch meist ist es die Suche nach Verwertbarem, die der eigentliche Born solchen Tuns ist. "Soziale", "gesellschaftliche", "ökonomische" oder "kulturelle" Relevanz ist das Entscheidungskriterium von solchen Unternehmen auf der Suche nach Marktlücken, die es zu füllen gilt. 

Nur selten werden diese Defizite als jene Löcher in unserem Bewusstsein empfunden, die schmerzlich daran erinnern könnten, welche Bestände durch die dem westlichen Denken inne-wohnende Grundstruktur der Wissenserzeugung verdrängt worden, rsp. verloren gegangen sind. 

Vordringlich – so meine ich – sind heute jene Auseinandersetzungen, die diesen Löchern im Netz der europäischen Zeichen und Gedanken nachzugehen vermögen.

Heute mehren sich die Anzeichen jener, die aus dem engen Zeichenraum der Kunst (aber auch jenem der Wissenschaft) auszubrechen suchen. Ein jedes dieser Vorhaben ist allerdings auch stets eine Gratwanderung, ein Unterfangen, das sich davor hüten muss, in die Fallgruben der Esoterik, der Erlebnispädagogik, der vorschnellen Sinnverwertung oder gar eines Produktemarketings zu verfallen. 

Zu fordern ist ein "klösterlicher Kontext".

Kulturen haben ihr Wissen, ihre zentralen Codes immer durch Geheimhaltung, rsp. durch hohe technische Anforderungen an die Praktikanten geschützt. Dies gelingt letztlich nur, wenn die Ressource "Zeit" nicht künstlich knapp gehalten wird. 

Weiterbildungsinstitutionen bedienen sich der Hochleistungsprinter, die Welt des Klosters ist die Welt der Kalligrafie geblieben. 

V

UNTERWEGS ZUR VOLLKOMMENEN STADT

 

Tagebuchnotiz 26. Oktober

“ Der Gotthard ist der Piccadilly Circus, der Times Square, die Place de la Concorde, der Punkt, von dem alle Gedankenstrassen ausgehen und zu dem sie letzten Endes zurückkehren. “

Tagebuchnotiz 10. Oktober 

“ Unablässiger Traum: Und abermals schlage ich die Seiten des Grossen Atlas auf. Manchmal genügt mir eine Lichtung in einer masslosen Landschaft, ein Aufleuchten von Lichtern im Nebel, der Dialog zweier Passanten, die sich im Gedränge begegnen, um mir vorzustellen, dass ich von hier aus die Vollkommene Stadt zusammensetzen könnte. “

REFLEXION VI:

Die Verdrängung der Natur und des Subjektes sind das langfristige Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen. Während die Wissenschaft in einem Prozess steter Rationalisierung Natur entmaterialisierte und Subjekte entseelte, reagieren Kunst (und tendenziell auch Philosophie) erinnerend wie verteidigend auf diese Verdrängungsprozesse. Darin liegt ein fundamentaler Aspekt gesellschaftlicher Relevanz von Kunst: Sie macht aufmerksam auf das Schwinden des Ich und das Sterben der Natur (hier nicht im ausschliesslich ökologischen Kontext gedacht) als historische Prozesse. Joseph Beuys bleibt darin exemplarisch wie er auch in der langen Tradition steht, die über Rudolph Steiner und Johann Wolfgang von Goethe zurückreicht an die Ursprünge der Austreibung des Subjektiven aus der Materie zu Beginn der Neuzeit. 

Wohl steckt hinter all diesen Strategien auch das Bild einer Sehnsucht, das den Zerstörungen und Entfremdungen der Moderne zu entgehen sucht. Als Kontrapunkt zum main-stream einer von wissenschaftlicher Rationalität beherrschten Gesellschaft sucht eine solche Reflexion jedoch weniger nach alternativen Heilkonzepten esoterischer Herkunft. Sie will weit mehr das Vergangene im Gegenwärtigen sichtbar machen - will als eine Form der Erinnerung an Konzepte von Natur und vom Menschen verstanden sein, die im Laufe des Zivilisationsprozesses zugunsten rücksichtsloser Rationalisierung geopfert worden sind.

So weit meine Einschätzung der eingangs erwähnten Fragen: Was ist Landschaft heute? 

Hat die Erde eine Sprache? Wie ist sie mir zu fassen?

 

Die tägliche Beobachtung der steten Verwandelbarkeit der Dinge hat im Laufe der Jahre zu einer steten Verdichtung meiner Arbeiten geführt.

Die Landschaft des Gotthard blieb dabei stets die Quelle und Antriebskraft meiner Obsession, die ihrerseits wiederum, mit ihren Wurzeln und Facetten, zum Anlass analytischen Beobachtens und Nachdenkens wurde, zur Einsicht in die Verwandelbarkeit der Dinge im wechselseitigen Austausch zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Weltschöpfungen führte.

Das Ziel, sofern überhaupt ein konkretes Ziel formuliert werden kann, ist kein sichtbares und greifbares, in sich abgeschlossenes Kunstwerk ”über den Gotthard”, sondern ein umfassendes Erkenntnisverfahren, das Subjektives und Objektives, Menschliches und Landschaft, Kultur und Natur zusammenführt und die Berührungspunkte, die Interaktionen, das Zwiegespräch oder das Schweigen erforscht und durch künstlerische Strategien und Formen darstellt und kommuniziert. 

Diese Strategien habe ich bisher in fünf Teilprojekte entwickelt, die verschiedene Wege der Annäherung an diesen spezifischen Ort aufzeigen. Die Natur hat sich mir in dieser Begegnung immer stärker als ein lebendiger Organismus offenbart.

In der Arbeit Camera beobachte ich mit fotografischen Mitteln die äussere Gestalt der Erde und lässt sie in ihrer Wandelbarkeit im Fluss der Zeit, des Wetters und des Lichtes als lebendigen Organismus erscheinen.

Durch La Prima Linea berühre ich mit einer in die Landschaft gelegten Arbeit die Erde und schafft, einer Ader gleich, eine materielle und geistige Verbindung zwischen dem Gotthard und Mailand, dem kulturellen und religiösen Ursprungsort des Hospizes auf dem Pass.

In der Bibliothek sammle ich in Wort und Bild subjektive Erfahrungen und aus dem Studium verschiedenster Quellen menschlichen Denkens und Forschens gewonnene Erkenntnisse. Diese Strategie bildet eine Art Gedächtnis und Ordnungssystem für die übrigen Tätigkeiten am Ort.

In den Szenografien inszeniere ich diese Erkenntnisse in Geschichten und Bildern als Handlungen im realen Raum des Geländes.

In meinem neuesten Projekt,  La Claustra, geht es um eine Erweiterung des bisherigen Wahrnehmungs- und Beobachtungsspektrums durch eine gemeinschaftliche und kommunikative Annäherung an das Territorium des Gotthards. La Claustra, im Romanischen der Name für Kloster, bildet den Rahmen einer im weitesten Sinne ”klösterlich” organisierten, das heisst nach einigen wenigen Regeln oder Ritualen aufgebauten Lebens- und Arbeitssituation. Menschen aus verschiedensten Tätigkeitsbereichen der Wissenschaft und Kultur finden sich im Gotthardgelände, in ober- und unterirdischen Räumen der ehemaligen Festungsanlagen zusammen. La Claustra soll Raum öffnen für experimentelles und spartenübergreifendes Arbeiten in verschiedenen Wissensgebieten. Fachleute unter anderem aus Chemie, Theater, Medizin, Psychiatrie, Architektur verfolgen Projekte, die grenzensprengend sind, einerseits in ihrem eigenen, spezifischen Forschungsmodus, anderseits durch die interaktive Berührung mit den anderen Projekten. Die traditionelle Verbindung von Klöstern und Bibliotheken im Aufzeichnen und Sammeln menschlichen Gedankenguts und Forschens findet hier eine neue Form der Verwirklichung. 

Kulturgeschichte und ihre schriftliche und bildliche Überlieferungen werden zurückgeholt ins aktive Bewusstsein. Durch die Reibung an dieser spezifischen Landschaft soll eine Befindlichkeit des modernen Menschen vis-à-vis der Natur wieder erforscht werden können.

Mit La Claustra entsteht ein Nervenzentrum, ein Gehirn des ganzen Organismus eines Territoriums, wo verschiedenste Informationen und Reize ein- und ausströmen und verknüpft werden. Es ist ein alchemistisches Labor, wo statt materieller Stoffe menschliches Denken und Empfinden gemischt, gewandelt, extrahiert und untersucht werden. 

Dieses  örtlich begrenzte Nervenzentrum – während 8 Monaten im Jahr von der Zivilisation abeschnitten – ist an die globale Vernetzung und Kommunikation angeschlossen. So können aus  dem Zentrum der Alpen, aus der Tiefe des Berges in alle Richtungen neue immaterielle, geistige Verbindungen entstehen.

 

EPILOG

„ Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus den dunklen Bergen kommt.“