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ÜBERSICHT

– Wie eine Oper am Amazonas / Rheinischer Merkur 2003 – Ein Mann will nach Innen / Süddeutsche Zeitung 2003 – La Claustra / Schweizer Familie 2003


Wie eine Oper am Amazonas

Rheinischer Merkur, Nummer 44/2003 Autorin: VERA RÜTTIMANN

Der Schweizer schuf eine lebendige Skulptur und nahm den Tiefsinn beim Wort: Tief im Bauch des mythischen Berges finden Sinnsucher eine Oase.

NEULAND: Wer in La Claustra absteigt, ist nicht ganz aus der Welt. Ein Kunstwerk braucht Nutzwert.  Auf den Serpentinen Richtung Passhöhe staut sich der Verkehr. Alles drängt durch das Nadelöhr Richtung Süden. Von romantischer Bergidylle keine Spur. Der Gotthard ist hier keine unberührte Landschaft, er ist zerfurcht von Tunnels, zerschnitten von Lüftungsschächten und visuell gezeichnet von sirrenden Hochspannungsleitungen. Es riecht nach Abgasen. Und doch ist dieses Gebiet etwas Besonderes. Eine mythische Landschaft, die seit Generationen fasziniert. Der Gotthard ist das Wasserschloss Europas. Von seinem Gipfel aus entspringen Rhein, Rhône, Reuss und Ticino in vier Himmelsrichtungen. Wegen seiner strategischen Bedeutung wurde das Massiv militärisch aufgerüstet. Gegen mögliche Angriffe aus Nazi-Deutschland entstand im Zweiten Weltkrieg ein Tunnelsystem, das die Schweiz untertags wie ein löchriges Stück Emmentalerkäse erscheinen lässt.  Eine der Anlagen: San Carlo. Mit dem Rückzug des Militärs aus der Befestigungsanlage blieb dort lange Zeit ein felsiges Vakuum zurück. Am Fuße der Staumauer des Lago di Lucendro 2050 Meter über dem Meer ist jedoch diesen Sommer im Untergrund ein neuer Kultort am Gotthard entstanden. Der Eingang ist gut getarnt. Der Gast muss eine schwere Eisentür öffnen, lässt sich dann fröstelnd durch einen langen, feuchtkalten Militärstollen führen. Raum- und Zeitgefühl kommen ihm dabei schnell abhanden. An der Decke haben sich Eiszapfen gebildet. Im Magen macht sich ein flaues Gefühl breit. Noch ist Zeit umzukehren, doch ein unbekanntes Etwas zieht einen sogartig weiter ins Berginnere. Immer weiter, wie ein Magnet. Nach 250 Metern öffnet sich der enge Schlund, die Gänge verzweigen sich. Die Brillengläser beschlagen. Schemenhaft ist ein Haus zu erkennen, darin ein Café mit schwarzen Ledersofas, Holztischen und Parkett. Man ist mittendrin im Bauch des Berges. Ein eigener Organismus. Unablässig rinnen kleine Rinnsale den Fels runter, die wie Adern wirken. Es riecht nach frischem Quellwasser, die Außenhaut des Gewölbes ist raffiniert beleuchtet. Man meint, das pochende Herz des Berges schlagen zu hören. Seitlich quillt gleißendes Licht hervor, das die Felswände akzentuiert und wie riesige Bühnenbilder erscheinen lässt.

Jean Odermatt bittet ins Berg-Café. Der 55-jährige Luzerner ist der Schöpfer dieser Wunderwelt unter Tage. Er strahlt Energie und Neugier aus, dennoch zeigen sich in seinem Gesicht auch Spuren der Erschöpfung. La Claustra ist das bisher ambitionierteste Projekt des Künstlers und Soziologen auf einem Terrain, das ihn seit vielen Jahren beschäftigt. Die Gespräche mit Behörden, Handwerkern, teils auch mit staunenden Bergbewohnern erforderten Hartnäckigkeit und Ausdauer. Und wohl auch eine Spur Verrücktheit. La Claustra komme ihm vor wie „ein Opernbau am Amazonas“. Mit einem Aufwand von fast vier Millionen Franken wandelte Jean Odermatt die einst hoch geheime Artillerieanlage zu einer unterirdischen Denk-Werkstatt für künstlerische und wissenschaftliche Projekte um. 

Odermatt führt durch das labyrinthartige, weitläufige Gelände und führt vor, wie seit 1998 aus der feuchtkalten Militärfestung eine wohnliche Anlage geworde ist. Modernste Energietechnik sorgt für ein angenehmes und trockenes Klima mit einer Temperatur von 20 Grad. In den ehemaligen Mannschaftsräumen und Offizierszimmern sind schlichte Zellen für etwa dreißig Gäste entstanden. „La Sala degli Atlanti“, das ehemalige Munitionsdepot, dient als multifunktionaler Gemeinschaftsraum. „Il Pendolo“ heißt der großzügige Begegnungsraum im Herzen der Anlage. „Il Castello“, das Wasserreservoir, wurde zu einem Ort der Muße erweitert.  In einem der Räume gab es kürzlich ein Treffen der Alphorn-Bläser. „Das hat getönt!“, lacht Odermatt. Eine neue Funktion hat auch der Panzerturm erhalten, an dessen Ende eine drehbare Kanone, von Felsbrocken geschickt getarnt, aus der Festung ragt. Aus dem Bauch des Berges steigt der Gotthard-Forscher auf dem „Pater Noster“ zum Geschützturm hinauf und öffnet eine Luke ins Freie. Am Himmel, sternenklar, die Milchstraße. Odermatt hat aus der Anlage ein Observatorium gemacht und die Kanone durch ein Fernrohr ersetzt. 

Die Gestaltung der Räume hat Odermatt genau überdacht. Ob Lampen, Pflanzenkreationen oder Möblierung, die meisten Gegenstände in La Claustra hat er selbst entworfen. Auffällig oft taucht bei ihm das Wort „Essenzen“ auf. Herkunft und Geschichte der Dinge sollen bewusst und sinnlich erfahrbar gemacht werden. Im Ofen der Küche duftet selbst gebackenes Brot, viele der Nahrungsmittel stammen aus der Region. Im Mehrzweckraum steht der Prototyp eines Tisches aus Ulmenholz, der nicht für Sitzungen, sondern für „Stehungen“ dient. Aus Asien hat Odermatt schließlich zwei große Gongs mitgebracht, mit denen die Zeit geschlagen wird. Essenzen, Stehungen, die Zeit schlagen. Das klingt einem Kloster gleich. Dass Jean Odermatt die umgebaute Armee-Anlage „La Claustra“ nennt, ist kein Zufall. Das Wort stammt aus dem Rätoromanischen und heißt Kloster. Den Luzerner, der seine katholische Prägung nicht verhehlt, hat die kulturgeschichtliche Prägung der Klöster stets fasziniert. Bei „La Claustra“ habe er sich auf Ursprungsideen der Klöster besonnen. La Claustra ist für Odermatt eine Reminiszenz an den benediktinischen Gedanken, Land zu gestalten. „Klöster waren stets wichtige Institutionen des Erkenntnisgewinns für die Menschheit. Dort wurden zahlreiche handwerkliche und geistige Techniken entwickelt, oft gingen sie eine Symbiose ein. Die Besiedelung und der technische Fortschritt im alpinen Raum sind klösterlichen Ursprungs“, schildert er. 

Bald wird klar: Odermatt hat nicht im Sinn, einen Orden zu gründen. Auch ist ihm jeder Missionsgedanke fern. Das Wort „Kloster“ steht für ihn eher für eine Chiffre für eine bestimmte Art des Zusammenarbeitens und -lebens. Für einen Ort der Kontemplation, der Sinnsuche und des interdisziplinären Austausches. Für eine Neubelebung der Tradition einer Klosterherberge. Für einen Denk-Ort tief im Fels, an dem fernab der Tageshektik über „grenzensprengende“ Projekte nachgedacht wird. Über das, was die Welt im Innersten zusammenhält. „Es gibt Leute, die denken, hier sei eine Sekte am Werk“, lacht Odermatt. Doch in die Ecke der Esoteriker möchte er keinesfalls gesteckt werden. Was ihn mit dem Klosterbegriff verbinde, sei „der Hang zur Radikalität. Das Reduzieren, das Auf-den-Punkt-Bringen. Das Betreten von Neuland.“ In diesem Sinne wird auch das Wort Exerzitien verstanden. Morgens und abends können Gäste an einem Weg zum Staudamm teilnehmen, auf dem schweigend ein Thema vertieft wird. ie Leute, die hier schlafen, lesen oder Gespräche führen, können unterschiedlicher nicht sein. Da sind Militärs, die ihre frühere Wirkungsstätte aufsuchen. Studenten, die in der Abgeschiedenheit die Dissertation schreiben. Manager, die sich dem Unternehmen „Kloster auf Zeit“ stellen. Die Stille, das Alleinsein, die Wendung zum Selbst, zu der einen diese Umgebung zwingt, können ernüchternd sein. Viele merken erst hier, dass sie den falschen Job, den falschen Partner haben, das falsche Leben führen. Sehen erst hier, wie die Knetmaschine des Alltags sie verrührt und mürbe macht. Manche erholen sich von Krisen, andere suchen nach Gott. Immer wieder suchen auch Gruppen den Ort auf, die die konzentrationsfördernde Stille schätzen, denn La Claustra ist auch ein Lehr- und Forschungsbetrieb, in den Forschungsanstalten, NGOs und Medien einbezogen werden. Es kommen Gruppen, die man hier nicht vermutet. Im Seminarraum hält sich derzeit eine Gruppe Bankangestellter aus dem Kanton Schwyz auf. Dies ist ganz im Sinne der Erschaffer von La Claustra. Laut Odermatt soll hier nicht die Abgeschiedenheit von der Welt zelebriert werden. Es gehe vielmehr um das Wechselspiel zwischen Innen- und Außenwelt. Der Tagesablauf in La Claustra soll nicht nur Ruhe und Vertiefung bewirken, sondern auch ein leibliches Wohlbefinden. Im Nasszellen-Bereich bestimmen erdige Materialien, warme Hölzer, Glas und raffinierte Lichtstimmungen die Räume. Klaustrophobie kann hier kaum entstehen. Im Wellness-Raum befinden sich ein verglastes Dampfbad und zwei japanische Kusatsu-Badewannen. Kein Handy klingelt, kein Fernseher lockt, auch das Korsett des Terminkalenders ist weit fort. Nur die unentwegt blubbernden Wasseradern sind zu hören. In der Küche, einem modernen High-Tech-Werk, werden wohl mundende Speisen zubereitet. Geführt wird sie von Ruth Wick, einer Hotelfachfrau, die einst ein Fünf-Sterne-Hotel leitete. In der „Cantina delle Essenze“ werden wahrlich edle Tropfen gekeltert.

Die Gäste aus Nidwalden haben in den Kaffeepausen viel Gesprächsstoff, doch das Hauptthema bleibt meist der Berg, stets gegenwärtig im Gurgeln der Wasseradern. Die Besonderheit von La Claustra, sagt Odermatt, sei nur zu verstehen, wenn man sich bewusst mache, auf welch mythenbehaftetem Terrain man stehe. In der Schweiz gilt der Gotthard noch immer als ein Symbol der Wehrhaftigkeit. Die Festungen unter Tage gelten als Kern des „Réduit“-Gedankens, jenes während des Zweiten Weltkrieges entwickelten Plans, den Nazis durch einen Rückzug in die Alpen zu trotzen. Der Rückzugsplan in den Granit schien gerade auch für die ausländischen Nachbarn der Mentalität der Schweizer nahe zu kommen. Der aufmerksame Zeitgenosse weiß, dass sich der „Réduit“-Gedanke auch heute noch hartnäckig in einigen Köpfen gehalten hat. 

Dass die gedanklichen Hinterlassenschaften aus den Zeiten des Kalten Krieges nach und nach entsorgt werden, auch dafür soll, so Odermatt, die Idee von La Claustra stehen. All diese Gedanken klingen mit, wenn Odermatt vom „Lebenskunstwerk Gotthard“ spricht. Dieser Berg ist ihm zur Obsession geworden. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er am und mit dem Gotthard und versucht, ihn auf allen Ebenen auszuloten. Schicht für Schicht. Er begann mit Szenografien. Zusammen mit Musikern und Performance-Künstlern inszenierte er im Gelände mythische Bilder, ein Versuch der Annäherung an den Berg. Fotoserien kamen dazu. Er installierte eine Kamera, die acht Jahre in Betrieb blieb. Von 500 Standorten fotografierte er regelmäßig gleiche Ausschnitte. Es sind Aufnahmen, die die Macht der Jahreszeiten zeigen.

In dieser Zeit kam ihm auch der Kloster-Gedanke. Der Wunsch, den Projekten eine physische und geistige Heimat zu verschaffen. Das bildnerische und geistige Inventar dieser Gegend hat sich für Jean Odermatt jedoch noch längst nicht erschöpft. „Der Himmel ist eine Größe, die mir jeden Tag vermittelt, was wesentlich ist.“ Anfangs konnte seine fotografische Obsession niemand nachvollziehen. Auf die Frage nach den Gründen seines Tuns antwortete er stets, es sei für die Wetterforschung. So erging es ihm auch mit La Claustra, dem Kernthema des Gotthard-Projektes. Heute hat er sich Respekt verschafft. Mit seinem neuesten Werk ist eine Skulptur, ein Ort der Berührungen entstanden. Ein außergewöhnlicher Denk- und Arbeitsplatz inmitten der europäischen Zentralalpen. La Claustra lebt. 


EIN MANN WILL NACH INNEN

THOMAS KIRCHNER / Süddeutsche Zeitung 13. Mai 2003

 Kein Schild weist den Weg von der Tremola, der alten Pflasterstraße am Gotthard, und nur wer weiß, wo er suchen soll, findet den Eingang kurz unterhalb der Passhöhe. Schwere graue Türen muss der Gast öffnen, läuft dann fröstelnd in den Berg durch einen hundert Meter langen, tropfnassen Militär-Stollen. Die Welt, die ihn erwartet nach dem letzten metallenen Tor, ist raffiniert beleuchtet. Seitlich quillt Neonweiß hervor, akzentuiert die schroffen Felswände und weitet sie gleichzeitig. Sonnenblumen-Gelb scheint aus der Glasfront des Ess- und Aufenthaltsraums, der wie eine riesige Schuhschachtel in die Kaverne geschoben wurde. Schwarze Ledersessel, hölzerne Tische, schlicht und freundlich wie die Begrüßung der Küchenchefin. Willkommen in „La Claustra“. Kloster heißt das auf Rätoromanisch, und als Kloster versteht auch der Hausherr, der Schweizer Künstler und Soziologe Jean Odermatt, dieses Hotel und Tagungszentrum, als Ort der Kontemplation und des Austauschs, wo sich Handwerk, Wissenschaft und Kunst begegnen. In vierjähriger Arbeit hat Odermatt die obsolete Artilleriefestung San Carlo, von der aus mehr als 200 Soldaten während Jahrzehnten die Passstraße sicherten, zu einem wohnlichen Ort gemacht. Den Gästen – Gruppen, manchmal auch Einzelpersonen, die mehrere Tage in „La Claustra“ verbringen – stehen zwei Dutzend einfache Schlafzimmer, erstklassige Verpflegung, ein kleiner Wellness-Bereich mit japanischen Bädern, Seminarräume und demnächst eine Bibliothek zur Verfügung. Fernab von Tageslicht und Handygeklingel, sollen Theaterleute, Chemiker, Geologen, Ärzte oder Psychiater tief im Fels „grenzensprengende“ Projekte angehen, Projekte, die im weitesten Sinne mit dem zu tun haben, was die Welt im Innersten zusammenhält.  Gemeinsame Exerzitien sollen Struktur und Rhythmus schaffen: Tägliche Lesungen, Theaterübungen – alles im Freien, denn kaserniert dürfen sich die Seminaristen nicht fühlen. Sie können reden, worüber sie wollen, gemeinsamer Bezugspunkt ist immer der Berg, stets gegenwärtig im Gluckern und Gurgeln der Wasseradern. Tausende Festungen der eidgenössischen Armee stehen inzwischen leer, aber gelingen kann das, was Odermatt mit La Claustra im Sinn hat, wohl nur in dieser mythenbeladenen Region. 

 Der Gotthard ist das Wasserschloss Europas. Von seinem Gipfel aus fließen Rhein, Rhone, Reuß und Ticino in die vier Himmelsrichtungen. Das steinige Massiv, das vor 20Millionen Jahren aus dem Boden stieg, scheidet Klimazonen und Kulturen. „Da beginnt Afrika“, sagt Odermatt und zeigt nach Süden. Die Ingenieure bezwangen dieses Gebirge und trieben ihm zwei Röhren durch den Leib, was rund 200Arbeiter das Leben kostete. Der nächste Eisenbahntunnel ist in Arbeit, es wird der längste der Welt. Für Schweizer ist der Gotthard aber vor allem ein Symbol ihrer Wehrhaftigkeit. Seine Festungen gelten als Kern des Reduit-Gedankens, jenes während des Zweiten Weltkriegs entwickelten verrückten Plans, den Nazis durch einen Rückzug in die Alpen zu trotzen. Das alles schwingt mit, wenn Odermatt vom „Lebenskunstwerk Gotthard“ spricht, das ihn fasziniere seit seiner Jugend, von der ihm „murmelnde Erinnerungen“ blieben. Dieser Berg ist ihm zur Obsession geworden, so sehr, dass ihn die Neue Zürcher Zeitung zum „monokratischen Sachwalter“ des Massivs ernannt hat. Seit mehr als zwanzig Jahren beobachtet Odermatt den Gotthard, versucht ihn zu beschreiben, zu begreifen, „nach unten und nach oben auszuloten“. Zwei Winter verbrachte er Tagebuch schreibend im verschneiten Hospiz, nur mit seiner Frau als Begleiterin, ein an den Film „Shining“ erinnerndes Experiment. In unzähligen Wanderungen hat er die Gegend erkundet und vermessen und ein „Gotthard-Projekt“ entworfen, das er nun nach und nach verwirklicht. Notizen, Radierungen und Filme gehören dazu, Performances, Inszenierungen mit Musik, Licht, theatralischen Mitteln, immer unter Einbezug der Landschaft, mit Anleihen bei der mittelalterlichen Mystik und der chinesischen Philosophie. Und Fotoserien: Von 500 Blickpunkten aus hielt Odermatt regelmäßig immer gleiche Ausschnitte des Geländes fest, unter anderem mit einer automatischen Kamera, die er auf 3000Metern Höhe installierte. Zunächst mit Weitwinkel, später mit Teleobjektiv entstanden mehr als 200000 Aufnahmen, die die Macht der Jahreszeiten zeigen und den Rhythmus des Berges. „La Claustra“, seine jüngste Arbeit, soll das „Nervenzentrum“ des ganzen Projekts werden. Ob sich die nah am Esoterischen liegenden Erwartungen erfüllen, die er daran knüpft, wird von den Menschen abhängen, die hierher finden. Ein Ort hoher Konzentration, ein besonderer Ort ist es auf jeden Fall. Und „La Claustra“ ist Kunst, wie sie Odermatt versteht: weder als Feierabend-Veranstaltung noch als Oppositions-Programm zur Wissenschaft, deren Nähe er sucht. Sein Ziel ist es, die „zwei Kulturen“, die in der Neuzeit auseinander fielen, Geistes- und Naturwissenschaften, Künstler und Forscher, wieder zusammenzuführen. 

Beispielhaft verwirklicht sieht Odermatt diesen Brückenschlag in Robert Wilsons Watermill Center nahe New York, einer Akademie für alle. Und am ehesten verkörpert haben ihn seiner Ansicht nach Goethe und Novalis, Steinklopfer wie er. Goethe, der als einer der letzten in beiden Sphären gelebt und sie als Teil eines Ganzen gedacht habe, ein Gotthard-Fan zudem, dem dieser Berg „merkwürdig“ vorkam, weil „die größten Gebirgsketten bei ihm zusammenlaufen und sich an ihn lehnen“. Mehrmals stieg der Dichter hinauf und sann über den Granit unter seinen Füßen, den er für den Urgrund der Erde hielt. Novalis schließlich, tagsüber Bergbau-Ingenieur, ansonsten Romantiker – „nachts packte ihn das schlechte Gewissen“, sagt Odermatt. Vielleicht sei er nur ein Voyeur, räumt der Künstler ein. Und doch steht ein Ziel hinter seinem Schauen: „durch das Äußere hindurch zum Innersten“ will er gelangen. La Claustra kann ihm vielleicht helfen, wie eine Linse, die verstreutes Licht bündelt. Oder wie ein Fernrohr. Aus dem Bauch des Berges steigt Odermatt einen der 50Meter langen Geschütztürme der Festung hinauf und öffnet eine Luke ins Freie. Am Himmel, sternenklar: die Milchstraße. 


LA CLAUSTRA

Schweizer Familie, 28. August 2003

Er hat ihn fotografiert, hunderte, tausende Male, bei strahlendem Sonnenschein, bei Sturm und Schnee. Er kennt all seine Wasserquellen, seine Wege und Geschichten ­ – und hat sich zusammen mit seiner Frau drei Winter lang gar einschneien lassen auf dem Hospiz: Jean Odermatt kreist seit 20 Jahren um den Gotthard. 

Entstanden ist in dieser Zeit ein dichtes künstlerisches Werk, Fotobände und Texte zu dieser hochalpinen Wildnis, aus der Odermatt seine Lebenskraft schöpft. «Der Gotthard ist der Punkt, von dem aus ich denke, auch wenn ich nicht hier oben bin», sagt der 55jährige, während er vor seinem neusten Werk steht: Vor der ehemaligen unterirdischen Festungsanlage San Carlo am nördlichen Ende der Tremola, der mit Kopfsteinen gepflasterten, alten Gotthardstrasse.  

Der Kontrast könnte nicht grösser sein: Ausgerechnet San Carlo, dieses Herzstück des Reduit, hat sich der Künstler vorgenommen  – er, der einst die Offiziersschule abgebrochen hat, weil er mit seinen inneren Widersprüchen zwischen Militär und Kunst nicht mehr zurecht kam. Und ausgerechnet einem solch militärischen Bollwerk gibt der Kunsthistoriker und Soziologie nun den Namen «La Claustra» – Kloster auf rätoromanisch: Nach aufwändigen Umbauten ist aus San Carlo ein Rückzugsort, ein Seminarhotel, ein Begegnungszentrum entstanden. Möglich ist in «La Claustra» vieles: Individualreisende können Ferien buchen, Firmen ihre Retraite  abhalten,  Seminarteilnehmer ihre Visionen entwickeln.   

San Carlo wurde 1938-43 ins Gebirge gesprengt, war Unterkunft für 225 Soldaten, deren Aufgabe es war, zwei Artilleriekanonen im Endkampf mit Nazideutschland zu bedienen. Sie kamen nie zum Einsatz, weil das schlimmste Szenario ausblieb. Doch erst vor acht Jahren, 50 Jahre nach Kriegsende, hat sich der damalige Generalstabschef Arthur Liener offiziell von der Idee des letzten Zufluchtsortes in den Alpen verabschiedet. Odermatt drehte einen Film darüber. Die beiden kamen ins Gespräch, lernten sich schätzen – und so kam es, dass der Generalstabschef dem Wachtmeister den Weg für sein Projekt ebnete.  Von aussen sind noch die zwei Kanonentürme und der Tunneleingang zu erkennen, nur für geübte Augen allerdings: Die riesigen Felsbrocken sind beste Tarnung. Odermatt steigt zum einem Panzerturm hoch, den er zu einem Observatorium umfunktionieren möchte. «Es gibt kaum einen anderen Ort in Mitteleuropa, wo man den Sternenhimmel dermassen klar und frei von Streulicht sehen kann wie von hier oben», sagt er.

Es ist schwierig, mit ihm Schritt zu halten, er marschiert, als hätte er einen Dauerlauf zu absolvieren  – und erzählt am Gotthard unentwegt vom Gotthard. Woher kommt diese Besessenheit? Odermatt  lacht, «irgendwann taucht diese Frage immer auf». Bis heute wisse er darauf keine bessere Antwort als diese: «Es ist wie mit einer Kompassnadel. Da fragt auch niemand, warum die Nadel immer nach Norden zeigt.» 

Der Gotthard als magnetischer Berg also. Odermatt ist in Luzern aufgewachsen und hat dies schon als kleiner Bub so empfunden. «Stanserhorn, Bürgenstock, Rigi und Pilatus waren meine Spielgefährten, und  ich wusste: Irgendwo dahinter thront dieses Gebirge, das ich irgendwann in meinem Leben erreichen werde».  

Längst hat er den Gotthard erreicht. Zwar nicht als Lokomotivführer, «als Brillenträger musste ich mir diesen Bubentraum aus dem Kopf schlagen. Auch nicht als Tiefbauingenieur, «dafür war ich zu spät dran, der Autotunnel war längst gebaut». Als Künstler jedoch hat  der Gotthard ihm zu Ruhm und Ehre verholfen und zu Geld, das er zum grossen Teil wieder in den Berg hineingesteckt hat.   

Allein für «La Claustra» waren es rund vier Millionen Franken. Das Geld stammt zum Teil von Jean Odermatt selber, der Rest von Kulturstiftungen und aus Bankdarlehen. «Ich hab dem Gotthard fast all meine Energien und Ressourcen zukommen lassen. Das war nicht immer einfach, vor allem für meine Familie nicht», sagt Odermatt, während er durch den dunklen, muffigen Zugangsstollen geht, der zu «La Claustra» führt. Odermatts Frau Gabriela, die ihn in der Anfangszeit als Künstlerin begleitet hat, lebt mit den gemeinsamen vier Kindern mittlerweile in Eglisau bei Zürich, Wohnsitz auch von Jean Odermatt – wenn er nicht gerade auf dem Gotthard ist oder in Südostasien, wo er weitere Kulturprojekte betreut. 

Bei der letzten Panzertüre des Tunnels, der zehnten, hält Odermatt inne. Er weiss um die Wirkung, wenn seine Besucher aus dem dunklen Stollen in die erste der fünf Kavernen treten. Der Wechsel ist tatsächlich verblüffend: Die Kaverne ist vom Betonmantel befreit, alles Militärische geschleift, der rohe Fels in sanftes Licht getaucht, das glasklare Wasser in einen Steinkanal gefasst  ­– und mittendrin steht ein rechteckiger Pavillon mit Essraum und Küche. Durch die Glasfront sind Ledersessel und Tische aus Ulmenholz sichtbar, ein Parkett aus Lärchenholz  – wohltuende Akzente in dieser unterirdischen Welt aus Gneis und Wasser. «Es ist, als würde man durch die Koordinaten Raum und Zeit fallen», hat Arthur Liener gesagt, als er Odermatts Anlage zum ersten Mal besichtigte. 

Nichts ist dabei dem Zufall überlassen: Lärchen wachsen als einzige Bäume bis fast zum Gotthard hinauf. Und Ulmenholz wird es in den nächsten Jahrzehnten in Europa keines mehr geben. Die Bäume sind von einem Pilz befallen, der den Kern zerstört. Rechtzeitig noch hat sich Odermatt eine Ladung Ulmenholz gesichert und alle Möbel aus diesem qualitativ hochstehenden Holz anfertigen lassen.

Stolz führt der Künstler durch sein Werk, zeigt den 2. Pavillon – heute Arbeitsraum, einst  Schlafplatz für 120 Soldaten in doppelstöckigen Betten. Die 17 Schlafzimmer, die mit ihren offenen Schränken auf Rollen, erinnern mit der Reduktion aufs Wesentliche an ein Designhotel. Die Nasszelle mit Dampfbad und zwei japanischen Pools – eine Wellness-Oase, wie das Thermalbad in Vals. 

Das also ist Jean Odermatts eigentliches Zuhause, an das sich mittlerweile auch seine Familie gewöhnt hat. Schwiegermutter Ruth Wick, einst Chefin des Fünfsternhotels Schlossresidenz Wülflingen bei Winterthur, führt in «la Claustra» die Küche. Und Sohn Seraphin (14) und Tochter Evamaria (16) verdienen sich während den Schulferien einen Batzen beim Vater. «Seit ich auf der Welt bin, ist er hier oben», sagt Evamaria, während sie Zwiebeln rüstet fürs Mittagessen. «Somit  gehört der Gotthard halt auch zu unserer Familie».