INVENTARIO San Gottardo

Eine Landschaft ist immer eine Vorstellung, die wir von der Natur haben. Aber die Natur ist ständig im Wandel und entzieht sich unseren Bildern. Wesentlich ist, was zwischen diesen Bildern steht.

*

Image Section aus den 600 Positionen im Gelände rund um den Passo del San Gottardo.   Im Zeitraum 1983 – 2005 sind insgesamt über 400’000 zeitlich datierte Aufnahmen entstanden. Entsprechende Variationen finden sich im Portfolio.

Osservatorio CANARISCIO 2525 m ü. M.

Pos. 150 Poncione di Löita

Pos. 150 Poncione di Löita

Pos. 151 Laghetto

Pos. 151 Laghetto

Pos. 167 Leventina

Pos. 167 Leventina

Pos. 1082 Il Passo

Pos. 1082 Il Passo

Pos. 106 Bedretto

Pos. 106 Bedretto

Pos. 135 Monte Prosa

Pos. 135 Monte Prosa

Pos. 309 Scimfuss

Pos. 412 Lago Piazza

Pos. 412 Lago Piazza

Pos. 415 L'Aquila

Pos. 415 L'Aquila

Pos. 537 Motta Bartola

Pos. 537 Motta Bartola

Pos. 551 Campanile

Pos. 551 Campanile

Pos. 543 Fontana

Pos. 543 Fontana

Pos. 713 Sella

Pos. 713 Sella

Pos. 6508 Torre

Pos. 6508 Torre

Pos. 6485 Müeterlishorn

Pos. 6485 Müeterlishorn


DER SPIGEL 8/1997: Jenseits von Heid-Land von Christiane Gehner

Berge, nichts als Berge. Gipfel, nichts als Gipfel. Als ob es keine anderen Motive auf der Welt gäbe. So einen seltsamen Bildband hat Walter Keller, Chef des Scalo-Verlags und Verleger von Robert Frank, Nan Goldin und Gilles Peress wohl noch nie produziert. Ist der Mann dem Höhenrausch verfallen?

Merkwürdigerweise werden für die Bergpanoramen immer dieselben Standorte gewählt, dieselben schroffen Gipfellinien, dasselbe Oval eines Bergsees; 10mal, 100mal, bei Tag und bei Nacht, in Wind und Wetter. Doch nie ist ein Bild dem anderen gleich - weil das Licht und der Himmel sich fortwährend ändern, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr.

Die Fotografien von Jean Odermatt sind weit entfernt von jedem Milka- und Heidi-Kitsch. Sie sind Ausschnitte aus Odermatts Lebenswerk, dem "Gotthardprojekt", einem "nachromantischen Kapitel in der Geschichte des Gesamtkunstwerkes", wie es Martin Schaub in der schweizerischen Zeitschrift DU genannt hat.

Jean Odermatt wuchs am Vierwaldstätter See auf. Die kindliche Bilderwelt des Jungen war geprägt von Figuren, Gesichtern und Tiergestalten, die er in der Bergwelt rund um den See zu erkennen glaubte. Später, nach dem Studium der Soziologie, bemühte sich Odermatt um Darstellungsformen, die das erhabene Bergerlebnis möglichst präzise wiedergeben sollten: Es galt, Kitsch, Verklärung und alle visuellen Rauschzustände zu vermeiden.

Odermatt entschied sich für den Gotthard - womit nicht ein Gipfel, sondern das auf einer Fläche von 20 mal 20 Kilometern aufragende Bergmassiv in der Zentralschweiz gemeint ist. Eine keineswegs unberührte Landschaft, sondern ein Durchgangsland für Millionen von Reisenden aus dem Norden in den Süden, durchtunnelt, überbrückt, unterhöhlt als überdimensionales Versteck der Schweizer Armee für den Kriegs- oder Katastrophenfall.

Im Winter, das heißt über acht Monate, ist die Region fast unzugänglich, für den Reisenden gesperrt. Das ist die Zeit des Forschers und Streckenläufers Odermatt. Das alte Hospiz am Paß wird sein Domizil. Hier verbringt er mit Ehefrau, Büchern, Fotoapparaten, einer Radierpresse und zwei Berner Sennenhunden die langen Kälteperioden.

Vom Hospiz aus beschreitet er systematisch das Gelände und fotografiert wieder und wieder aus über 500 festgelegten Positionen. Wenn ihn schnöde Anlässe des Broterwerbs zur Rückkehr in den Alltag zwingen, dann erledigen automatische, wintersichere Kameras das regelmäßige Dokumentieren der Berglinien und des Himmels darüber. So entstehen zahllose Serien, minutiös aufgelistet mit Raum- und Zeitangaben. Denn, so Odermatts Prinzip, "erst die Serie nimmt dem einzelnen Bild seine Absolutheit, zeigt eine neue Wirklichkeit. Erst durch die Serialität kommt man dem Wesen auf die Spur".

So sind in den letzten 15 Jahren mehr als 180000 Aufnahmen entstanden, dazu Tagebuchtexte und ein umfangreiches Werk von Radierungen und Gravuren aus der Presse im Hospiz: Das Eingravieren dieser Bilder findet im "Schreiben mit Licht" (der wortwörtlichen Übersetzung des Wortes Fotografie) ihre Analogie.

Odermatts "Himmelsland"-Band dokumentiert ein genau erforschtes Bergerlebnis. Nur von den aktionistischen Teilen des Gotthardprojekts erzählt das Bilder-Buch leider nichts: "Szenografien" nennt Odermatt die Performances, an denen jeweils nur eine kleine Gemeinde von Anhängern teilnimmt. Musiker, Schauspieler, Pyrotechniker fanden sich im Innern der gigantischen Lucendro-Staumauer zusammen. In den kathedralengleichen Hohlkammern inszenierte Odermatt bislang drei Spektakel mit Texten und Musik, Feuer und Rauch; vier weitere Performances sind noch geplant.

Ist das Gotthardprojekt also eine Art "soziale Plastik" im Sinne von Joseph Beuys? Odermatt selbst bemüht den großen Meister nicht; er fühlt sich Nan Goldin verwandt. Seine andauernde Befragung von Natur diene der Identitätserforschung. Er vergleicht diese Befragungen mit den Studien der US-Fotografin, die ihre "Familie" aus Freunden und Bekannten überall auf der Welt immer wieder fotografiert. Jüngst hat die Amerikanerin Odermatt sogar besucht - bei seinen Verwandten, den Bergen.

VON CHRISTIANE GEHNER